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Kultur: Neue Traufen braucht das Land

Ganz schön viel Wasser in St. Petersburg – eine Ausstellung im Berliner Literaturhaus

Vor dem Literaturhaus wachsen seltsame Röhren wie riesige Pilze aus dem Rasen. Der VW-Käfer, der hier vor kurzem auf dem Rücken lag und auf die Verwandlung von Franz Kafkas Gregor Samsa hinwies, scheint eine weitere erstaunliche Metamorphose durchgemacht zu haben. Manche Röhren sind gebogen und in der Biegung gefältelt wie Ofenrohre, aber gut dreimal so dick. Eines hat oben einen großen Trichter, an einem anderen kleben kopierte Zettel: „Aerobika 557-11-42“ ist dort zu lesen. Russische Werbung für Aerobik?

Die Regenrinnen-Installation mit dem Charme der späten Hausbesetzerszene lädt ein zur Ausstellung „Wasser – Stadt. 300 Jahre St. Petersburg“ im Berliner Literaturhaus. Von seinen Räumen hat dieses Mal nicht das Trockene und Papierene, sondern das Flüssige und Feuchte Besitz ergriffen. Anstelle von Manuskripten, Büchern und Manifesten, die mit Puschkin, Gogol, Lermontow und Achmatowa die reiche literarische Tradition der früheren Hauptstadt Russlands präsentieren, sind in der Fasanenstraße Rauminstallationen, Klangskulpturen und Fotografien von sechs russischen und deutschen Künstlern zu sehen. Das Literaturhaus goes Multimedia.

Petersburg wurde auf Order von Peter dem Großen dem Meer und dem Sumpf abgetrotzt. Überall im „Venedig des Nordens“ ist das Wasser präsent. Es fließt in der Newa durch die Stadt, dient als Verkehrsweg, zur Orientierung und erhöht durch Spiegelung und Distanzierung die Wirkung der Repräsentationsbauten wie der Admiralität oder der Eremitage. Es stürzt allerdings auch in verschiedenen Aggregatzuständen überreichlich vom Himmel. Wahre Sturzbäche müssen die großzügig dimensionierten Petersburger Regenrinnen aufnehmen können, die krumm und schief die Fassaden der gesamten Stadt zieren.

Plätschern, Prasseln, Gurgeln

Nein, nicht der ganzen Stadt, sagt die Slawistin Rosalinde Sartorti von der Freien Universität, die das von einem Symposium und einer Filmreihe flankierte Ausstellungsprojekt in Petersburger Wohnküchen ausgeheckt hat. Denn seit die Stadt in potemkinscher Weise, also lediglich an der repräsentativen Vorderseite für den Geburtstag restauriert wurde, prunken zumindest an den Palästen und den prächtigen Bauten des Newski-Prospekts neue Traufen. Es sind so genannte „Anti-Vandalismus-Regenrinnen“: Anders als ihre Vorgänger sollen sie der Sitte der Petersburger standhalten, mit Stockschlägen den schockgefrorenen Inhalt zu lösen.

Was Einwohner und Wasser, Hitze und Frost, Zeit und staatliche Wohnraumvernachlässigung bewirken, zeigen die großformatigen Fotografien des Malers Michail Goroschenko: angelaufene, verfärbte, verformte, zerstörte Rohre, zuweilen baumelt nur ein Überrest hilflos von einer Fassade. Deren zeitweiligen Inhalt versprüht Mascha Godowannaja mit Hilfe einer recht lauten Pumpe zu einem feinen Vorhang, der den auf ihn projizierten Film über die Fontänen und Wasserrohre von Schloss Peterhöhe impressionistisch auflöst.

Im Veranstaltungsraum hat wiederum Frank Hermann eine blau getönte Fotografie der Admiralität und des Winterpalastes samt Ausflugsdampfer mit Newa-Wasser punktiert, das die Aufnahme nach und nach zersetzen wird. Dazu steigt aus dem Foyer eine Klangcollage von Sergej Moschkow herauf; der Künstler war zuletzt Tonmeister bei Alexander Sokurows Film „Russian Ark“, der ohne einen einzigen Schnitt auskommt und die Eremitage in einer einzigen langen Kamerafahrt passiert. Es rauscht und plätschert bei Moschkow, prasselt und gurgelt, hagelt und sprudelt, schäumt und tropft. Keine Brille, sondern eine gute Blase sollte besitzen, wer sich dieser Tage länger im Literaturhaus aufhält.

Literaturhaus, Fasanenstraße 23 . Bis 17. August, täglich 11-17 Uhr

Jörg Plath

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