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Drama muss sein. Justin Doyle probt Monteverdis "Marienvesper" für sein Antrittskonzert im Pierre Boulez Saal.

© Tim Bartholomäus/Rias Kammerchor

Neuer Chefdirigent des Rias Kammerchor: Justin Doyle macht es wie die Elster

Die Karriere des Briten verlief bisher unterhalb des internationalen Radars. Mit Monteverdis "Marienvesper" tritt Justin Doyle nun als Chefdirigent des Rias Kammerchors an. Eine Begegnung.

Wie leise kann man den Pierre Boulez Saal eigentlich betreten, wo sehen die Sängerinnen auf der Empore ihren Dirigenten noch, wie lange braucht es, bis der Chor ganz unten bei den Musikern angekommen ist? Justin Doyle erkundet seinen neuen Klangkörper und einen neuen Raum. Er singt, dirigiert, diktiert – und vor allem: Er hört sehr genau hin. Für sein Antrittskonzert als Chefdirigent des Rias Kammerchors hat sich der 41-Jährige eine herausfordernde Aufgabe gestellt: Er erarbeitet Monteverdis „Marienvesper“, diese Sammlung aktueller und zukünftiger Stile, die der Komponist 1610 als eine Art Bewerbungsmappe zusammengeschnürt hat. Wie sie als Ganzes aufzuführen sei, ist ein musikalisches Rätsel, das große Interpreten bis heute reizt, etwa John Eliot Gardiner zu seiner prachtvollen Aufführung im Markusdom von Venedig.

„Wie würde Monteverdi hier heute im Boulez Saal entscheiden“, fragt sich Justin Doyle, „zwischen diesen sinnlichen Concerti und geistlichen Chorsätzen?“ Der Chorleiter teilt seinen Geburtstag mit dem des Komponisten und weiß, dass bei strengem Philologenblick jede seiner Entscheidungen falsch sein kann. Geboren 1976 in Lancaster, entstammt er der britischen Chortradition, geschult als Chorknabe der Westminster Cathedral und als Choral Scholar am King’s College in Cambridge. Die Mutter ist Klavierlehrerin, der Vater Geiger. Der spielte mit Simon Rattle zusammen im Jugendorchester – als Konzertmeister, der spätere Stardirigent als 3. Schlagzeuger.

Immer war Justin Doyle von Musik umgeben, und vielleicht hat ihn dieser selbstverständliche Umgang mit Epochen und Stilen zu einem Dirigenten gemacht, der in keine Schublade passen will. Nach seiner Zeit als Cellist leitet er Opernaufführungen, Sinfoniekonzerte, Chöre und Education Projekte, liebt die Musik der Renaissance ebenso wie die Gesänge Kenias. „Durch diese Breite, diesen Reichtum, bin ich ein besserer Musiker“, ist sich Doyle sicher. Und setzt lachend nach: „Ich bin wie eine Elster, ich nehme von überall.“

Doyle empfindet Berlin als leise Großstadt

Seine musikalischen Raubzüge verliefen bisher unter dem internationalen Karriereradar. Doyle hat weder eine Website, noch gab es vor seiner Ernennung zum Chefdirigenten des Rias Kammerchors Pressebilder von ihm. An seiner Heimat in Skipton, North Yorkshire, schätzt er, dass es dort mehr Schafe als Menschen gibt. Dass er Berlin als leise Großstadt empfindet, darf getrost als Lob verstanden werden. Wer sich Doyle nun als etwas zugeknöpften britischen Landmann vorstellt, der übersieht seine Leidenschaft für die Oper, die auf sein gesamtes Musizieren ausstrahlt. „Das dramatische Verständnis jedes Stücks bildet für mich die Basis“, betont er. Dabei profitiert der Chor vom Operndirigenten, während die Oper von der Disziplin des Chores lernen kann. Für Doyle sind das keine Gegensätze, wie er dem Publikum bei seinem ersten großen Auftritt mit dem Rias Kammerchor zu Neujahr mit Händels Oratorium „Theodora“ beweisen konnte. Nach zweieinhalb Stunden sorgte er noch für eine freudestrahlende Zugabe.

Zur Operntruppe wird er seinen neuen Chor aber nicht umfunktionieren, dafür gebe es zu wenig befriedigende Werke im Repertoire – neben Monteverdis „Orfeo“ oder Purcells „King Arthur“. Doch Doyle will dem warmen und flexiblen Rias-Klang neue Facetten hinzufügen, plant, Kompositionsaufträge zu vergeben, um künftig Nischen zum Klingen zu bringen. Auch mit Programmformaten will er spielen, etwa wenn er Bach, Henze, Tomás de Victoria und James MacMillan wie ein Koch anrichtet: „Zwischendurch immer wieder ein bisschen Chili und Sorbet, bevor es zum Hauptgang kommt.“ Auch die Musik seiner wenig bekannten Landsleute Richard Dering und Peter Philips, die als Katholiken ihre Heimat verlassen mussten und schließlich in den toleranten Niederlanden wirkten, will Doyle vorstellen. Neue alte A-cappella-Kunst für den Rias Kammerchor.

Ohne Haydns Musik aber kann sich der neue Chefdirigent sein Leben nicht vorstellen. Nicht nur verbindet ihn seine Obsession für Volkslieder mit dem Klassiker. Großzügig, kollegial, demütig, niemals nachlässig, praktisch veranlagt und vielfältig – das erkennt Doyle in Haydn. „Ein echter Renaissance-Mensch, wie wir in Großbritannien sagen. Das wäre ich auch gern!“

Marienvesper: Fr 15. 9., 19 Uhr, Sa 16. 9., 17.30 Uhr, Pierre Boulez Saal. Missa in illo tempore: Fr 15. 9., 21.30 Uhr, Sa 16. 9., 15.30 Uhr, Hedwigs-Kathedrale.

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