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Neuer Dresen-Film: Er bleibt in der Familie

Statt in die Ferne zu verschwinden sucht eine Familie nach einer schrecklichen Nachricht die Nähe zueinander. Ein Lehrstück vom Sterben: Andreas Dresens Film „Halt auf freier Strecke.“

Als sie erfahren, dass er bald sterben wird, zählen sie alle Orte auf, an die sie ohnehin nie fahren wollten. Die Malediven etwa, komplett überbewertet. Oder Thailand, kein Interesse. Am selben Abend noch kippt er vor Schwäche um. Es bleiben ihnen nur wenige Monate.

In den meisten Filmen sei der Tod nur ein Vorwand, um von einer Reise ans Meer zu erzählen, hat Andreas Dresen in einem Interview gesagt. Nun liefert er den Gegenentwurf. „Halt auf freier Strecke“ handelt von Menschen, die angesichts des Todes bleiben, wo sie sind. Am Stadtrand von Berlin, in einem mittelmäßigen Haus, in einem mittelmäßigen Leben. Am Meer fand nur die Premiere des Films statt, er gewann den Hauptpreis der Nebenreihe „Un certain regard“ in Cannes. Kritiker lobten, dass er seinen Zuschauern so viel zumute, Inkontinenzwindeln, Spritzen, die ganze Unappetitlichkeit des Todes, die Filme meist weglassen. Wie früher schon wurde Dresen als Meister des Realismus gefeiert. Ein Missverständnis: „Halt auf freier Strecke“ zeigt nicht das wahre Leben, sondern ein durch und durch idealisiertes.

Zu Anfang sitzt Frank (Milan Peschel) mit seiner Frau Simone (Steffi Kühnert) im Wartezimmer eines Krankenhauses. Die Stühle haben den lebensbejahenden Gelbton, den das Mobiliar an solchen Orten häufig hat, doch der Arzt teilt Frank mit, dass sein Hirntumor bösartig ist, „sogar ziemlich bösartig“. Die kommenden 110 Minuten begreift der Zuschauer, was der Arzt mit dieser merkwürdigen Steigerung des Adjektivs gemeint hat. Das Gedächtnis, die Sprache, die Bewegungsfähigkeit, mitunter auch die Persönlichkeit, all das nimmt der Tumor Frank, allein seinen Augen kann er nichts anhaben. Die wunderbaren braunen Augen Peschels erinnern den Zuschauer in jeder Minute an den Menschen, der hier gerade verloren geht – selbst wenn er in das Zimmer der Tochter pinkelt oder mit den Krücken nach Simone wirft.

Steffi Kühnert, eine alte Bekannte aus Dresen-Filmen, verkörpert ihre Rolle als Simone so überzeugend, wie man es von ihr kennt. Dresen aber setzt ihrer realistischen Darstellung noch eins drauf: Das Mädchen, das die Tochter spielt, hat wirklich einen Elternteil verloren, der Neurochirurg, der die Diagnose überbringt, ist wirklich Neurochirurg, und die HomeCare-Ärztin, die das Paar zu Hause besucht, betreut wirklich Sterbende. Überall echte Menschen also. Und sie werden zum Problem.

„Halt auf freier Strecke“ predigt vor allem eine moralische Botschaft: Pflegt eure Angehörigen zu Hause. Die echten Menschen sichern diese Position ab, sie treten als Kronzeugen von Dresens impliziter Anklage auf, dass der Tod in unserer Gesellschaft ausgelagert worden ist. Auch wenn diese Auffassung stimmt: Dass Dresen sie so vehement vertritt, macht aus dem Film ein Lehrstück. Er zeigt nicht das Leben, wie es ist, sondern wie es Dresen zufolge sein sollte. Deutlich wird das vor allem bei der HomeCare-Ärztin, die in einer langen Ansprache Susanne mitteilt, sie habe die Verantwortung, ihren Kindern zu zeigen, dass Sterben nicht schrecklich sein müsse.

Dabei sind die Kinder gerade so gut, weil sie das Herannahen des Todes eben doch schrecklich finden. Der Sohn mault, als sie wegen eines Schwächeanfalls des Vaters einen Ausflug abbrechen, und die Tochter will am liebsten niemanden mehr nach Hause bringen. Nur ihnen gestattet es Dresen, sich angesichts des Todes politisch inkorrekt zu verhalten. Im vergangenen Jahr ging die dänische Regisseurin Pernille Fischer Christensen einen sehenswerten Schritt weiter. In „Eine Familie“ ließ sie Erwachsene wie Kinder eines wohlhabenden Clans angesichts des nahenden Todes ihres Patriarchen verzweifeln.

Doch das wäre weder Dresens Milieu noch seine Botschaft. In seinen Filmen ist er stets ein Advokat, fast schon ein Bewunderer der einfachen Leute gewesen. Und sie neigen nicht zur Verzweiflung, sondern bringen im Notfall verlässlich emotionale Höchstleistungen. In „Sommer vorm Balkon“ wusch Nadja Uhl als Nike unermüdlich die Alten und Lahmen. In „Halt auf freier Strecke“ schafft es Simone kaum, ihre Tramfahrer-Uniform auszuziehen, wenn sie die Reihenhaustür aufschließt, so sehr ist sie im Einsatz für ihren todkranken Mann. Und das wirkt dann doch beträchtlich sozialromantisch: Ja, die kleinen Leute, die sind zwar klein, aber moralisch ganz erhaben.

So anerkennenswert es ist, dass Dresen vor keinem körperlichen Detail zurückscheut: Das Verhalten der Figuren ist umso appetitlicher. Ihnen sieht man gerne zu, fast sind sie Helden, und deshalb verlangt der Film dem Zuschauer letzlich gar nicht so viel ab.

Ab Donnerstag in den Kinos Blauer Stern Pankow, Delphi, Hackesche Höfe, International, Kulturbrauerei, Moviemento und Yorck

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