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In Sarajevo geboren, in Kroatien zuhause: der Schriftsteller Miljenko Jergović.

© Thilo Rückeis

Neuer Jergović-Roman: Nonna, Mama und ich

Zwischen Fantasie und Historie: Miljenko Jergović erzählt in seinem neuen Buch die Geschichte seiner Familie. Eine Begegnung in Berlin.

Das erste und einzige Opernhaus des Osmanischen Reichs entstand Mitte des 19. Jahrhunderts in Sarajevo. Entworfen hatte das tortenförmige Gebäude Ganimed Troyanovsky, den der damalige Machthaber Omer-Pascha Latas 1851 eigens aus Paris hatte anreisen lassen. Die Besonderheit des Baus im Bezirk Bistrik war, dass man ihn von jedem Punkt der Stadt aus sehen konnte.

Bei der ausverkaufen Eröffnungsvorstellung im Mai 1870 spielte ein Wiener Tourneeorchester Mozarts „Così fan tutte“. Kurz darauf geriet das Osmanische Reich ins Wanken, und es dauerte zehn Jahre, bis die nächste Inszenierung über die Bühne ging. Damals gehörte Sarajevo bereits zur K.-u-K.-Monarchie. Ein Fluch schien auf dem Gebäude zu liegen, denn auch die Gründung eines Ensembles schlug zweimal fehl. Bis heute steht es die meiste Zeit leer.

Was für ein wunderbarer Schwindel! Natürlich hat nie ein Opernhaus in der bosnischen Hauptstadt existiert. Erdacht und erbaut hat es der in Sarajevo geborene und jetzt in einem Dorf unweit von Zagreb lebende Miljenko Jergović in seinem Roman „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“. So glaubhaft und lebendig ist dieses Kapitel, dass selbst Menschen, die mit der Topografie von Sarajevo vertraut sind, beim Lesen kurz stutzen.

Elliptische Bögen voller Abschweifungen

Die Vermischung von Fantasie und Historie, Verwischung der Grenze von Fiktion und Dokumentation – dies sind prägende Element von Jergovićs auf Kroatisch bereits 2013 unter dem Titel „Rod“ (Stamm oder Verwandtschaft) erschienenem Werk, das im Original 1001 Seiten umfasst. Was fast symbolisch wirkt, denn gefühlt sind hier 1001 Geschichten versammelt, die alle von der Familie des Autors ausgehen oder auf sie zulaufen.

Die Familie ist das Material, aus dem Jergović einen überbordenden, in elliptischen Bögen voller Abschweifungen erzählten, zwischen verschiedenen Perspektiven und Genres wechselnden Roman geschaffen hat. Dabei verweist er auch auf eigene Bücher wie „Glorija in excelsis“, "Mama Leone" oder „Vater“, in denen er bereits Elemente seiner Familienhistorie verarbeitet hat.

Wie es zu dieser Struktur kam? „Ich glaube nicht, dass die klassische Form des Familienromans die Geschichte einer Familie überhaupt fassen kann“, erklärt Miljenko Jergović bei einem Gespräch im Café des Berliner Literaturhauses. „Familiengeschichte ist ungeordnet und vielfältig. Sie besteht aus den Geschichten, die Oma und Opa erzählt haben, aus Fotoalben, Listen, Geheimnissen, dem Inhalt von Dachböden und Kellern, verlorenen und vergessenen Sachen. Aus alldem wollte ich ein Buch montieren.“ Das hat er fulminant umgesetzt.

Der Tod des Onkels prägt alles Kommende

Dabei greift er einige Episoden und Anekdoten immer wieder auf, variiert und erweitert sie – ähnlich wie beim familiären Gespräch am Abendbrottisch. Ein zentrales Motiv ist der Tod von Jergovićs älterem Onkel Mladen im Jahr 1942. Für den Autor ist dieses Ereignis einer der Gründe, warum er „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ geschrieben hat. Es sei „die Wahrheit, die unter allen unseren Wahrheiten liegt. Etwas, das alles beeinflusst hat und wichtiger als alles andere ist.“

Ein Jahr nach seinem Abitur wird Mladen in Slawonien getötet – als erster und einziger Angehöriger seiner Einheit, einer SS-Truppe, in die er als sogenannter Volksdeutscher einberufen worden war. Die mütterliche Seite von Jergovićs Familie – nur von ihr handelt das Buch – ist ein für die Region typischer Nationalitätenmix. Wobei Urgroßvater Karlo Stubler, ein Deutscher aus dem rumänischen Banat, der in Bosnien perfekt integriert ist, ohne sich zu assimilieren, dafür sorgt, dass alle seine Kinder und Enkel zweisprachig aufwachsen.

Als der Sohn von Karlos jüngster Tochter Olga den Einberufungsbefehl erhält, streitet diese mit ihrem slowenischen Mann Franjo über das weitere Vorgehen. „Beide waren Antifaschisten, sie hielten nichts von Hitler“, sagt Miljenko Jergović. „Es ging ihnen nur darum, dass der Sohn den Krieg heil übersteht. Weil die Großmutter stärker war, setzte sie sich durch.“ Sie glaubt, Mladen sei bei Deutschen sicherer als bei den Partisanen, zu denen der Vater ihn schicken will. Als der schöne, begabte Sohn getötet wird, bricht für Olga eine Welt zusammen. Sie fällt vom katholischen Glauben ab und überträgt ihre Schuldgefühle auf die nicht mal einjährige Tochter Javorka, die spätere Mutter von Miljenko Jergović.

Die Mutter war eine seltsame, unglückliche Frau

Er schreibt: „Der gefallene Sohn besetzte bei uns wie in der weiteren Verwandtschaft immer mehr Raum. Javorka erinnerte mit ihrer bloßen Existenz an ihn, war das Gesicht von Mladens Tod, Olgas loderndes, untröstliches Gewissen. Sie wird sie schon geliebt haben, wie jede Mutter ihr Kind liebt. Gleichzeitig hasste sie sie mit einem unbeschreiblichen, unaussprechlichen Hass“.

Die auf Javorka projizierten Gefühle überträgt diese Jahrzehnte später teilweise auf ihren 1966 geborenen Sohn Miljenko, den sie allein großzieht, nachdem er die ersten Jahre bei seinen Großeltern verbrachte. Im Buch nennt Jergović. seine Mutter eine „seltsame, unglückliche Frau“, die sich an allem und jedem gestört habe. „Unter anderem an mir. An mir vielleicht am allermeisten.“ Er mutmaßt, dass sie ihn als Hindernis für ihr eigenes Glück empfunden habe. Welcher Mann wolle schon eine Frau mit Kind? Mutter und Sohn kommen irgendwie klar, eine liebevolle Beziehung ist es nicht. 1993 zieht Miljenko aus – er nutzt eine Gelegenheit, aus der von Serben belagerten Stadt nach Kroatien zu gelangen, wo er seither lebt.

Als die Großmutter ihm "Wolfblut" vorliest, ist er elektrisiert

Nahe kommen sich die beiden erst wieder im Jahr 2012, als die Mutter schwer krank wird und vier Monate vor ihrem Tod, in langen Telefonaten von ihrer Familie zu erzählen beginnt. Das habe ihr das Leben erleichtert, sagt Jergović, der sowohl ihre Erinnerungen als auch die Geschichte ihres Sterbens in den Roman integriert hat.

Weitaus prägender als die Mutter waren für ihn jedoch die Großeltern Olga und Franjo, genannt Nonna und Nonno, bei denen er bis zu seiner Einschulung lebt. „Jedes Wissen, jede Fähigkeit kommt – bis heute – von ihnen“, schreibt Jergović. So ist es Nonna, die in ihrem Enkel den Wunsch weckt, Schriftsteller zu werden. Sie liest ihm regelmäßig vor, etwa Jack Londons „Wolfsblut“, als er fünf Jahre alt ist. „Echt kein Buch für Fünfjährige“, sagt der Autor. „Aber ich war völlig fasziniert und bezaubert. Damals habe ich die Überzeugung gewonnen, dass es auf der Welt keine größere und wichtigere Arbeit geben kann, als Schriftsteller zu sein.“

Jergović schreibt ein Buch von Ivo Andrić fort

Inzwischen hat er hat rund zwei Dutzend Bücher veröffentlicht, die in 20 Sprachen übersetzt wurden, zudem schreibt er regelmäßig für Zeitungen und Magazine. Seine Großmutter hat nicht mehr erlebt, wie ihr Enkel zu einem der bedeutendsten Autoren ihres mittlerweile zerfallenen Landes aufstieg. Dafür hat Jergović ihr eine famose Hommage gewidmet: Die weit über hundert Seiten, die sich um den Architekten der fiktiven Oper von Sarajevo drehen, haben letztlich nur jene Anekdote zum Ziel, in der Jergović mit seiner Oma vor dem Gebäude steht und darüber lästert. Er schreibt: „Meine erste literarische Übung war, mir etwas auszudenken, über das Nonna lachte, während wir beide mit verrenkten Hälsen am Holztor der Sarajever Oper in den Himmel schauten“.

Jergović hat die Oper für seine Nonna erbaut. Sie hat immer viel gelesen, weshalb es ihr sicher gefallen würde, dass ihr Enkel auf den großen Ivo Andrić anspielt, dessen posthum veröffentlichten Roman „Omer-Pascha Latas“ er mit dem Opern-Kapitel quasi fortschreibt. Ziemlich keck heißt es einmal über eine hinzuerfundene Figur: „Andrić spürte die Lücke in seiner Erzählung, sie machte ihm zu schaffen, er versuchte sie mit anderen Figuren zu füllen.“ Man sollte das nicht als Größenwahn verstehen, sondern als Ehrerbietung an den den einzigen Literaturnobelpreisträger Jugoslawiens, den Jergović als den größten Schriftsteller seiner Sprache bezeichnet. „Wenn mich jemand fragen würde, warum man Serbokroatisch lernen sollte, würde mir nur einfallen: Ja, um Andrić im Original lesen zu können.“ Und Jergović, ließe sich anfügen. Ein Autor, der langsam und bedächtig spricht, aber viel und sprachmächtig schreibt.

Neue Familiengeheimnisse in der Wohnung der Mutter

Derzeit räumt er die Wohnung seiner Mutter in Sarajevo aus. Sie habe nichts weggeworfen, volle Schubladen einfach nicht mehr geöffnet. Nun dreht Jergović jeden Zettel dreimal um und fühlt sich dabei halb wie ein Archäologe, halb wie ein Museumskustos. Das Material fasziniert und inspiriert ihn. „Ich entdecke Sachen, die meine Mutter mir nicht erzählt hat und Dinge, die ich vollkommen vergessen hatte.“ Hätte er einige der Briefe und Dokumente schon vorher gekannt, hätte er sein Buch anders geschrieben, sagt er. „Aber es ist mir recht, dass ich diese Dinge nicht hatte, denn jetzt kann ich wieder andere Geschichten erzählen.“

Miljenko Jergović ist das letzte Mitglied seiner Familie. Wenn noch jemand lebte, hätte er den Roman gar nicht schreiben können, betont er. So aber hat er Karlo, Olga, Javorka und den anderen sowie seiner verlorenen Heimatstadt Sarajevo ein Denkmal gesetzt. An der Fortsetzung wird schon gemeißelt.

Miljenko Jergović: Die unerhörte Geschichte meiner Familie. Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co. Frankfurt a. M. 2017. 1141 S., 34 €.

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