zum Hauptinhalt
In Erwartung der Sonne. Russische Schamanen beim Morgenritual. Lauscht hier irgendwo Olga Martynova? Foto: Alexandr Kryazhev/p-a/dpa

© picture alliance / dpa

Neuer Roman von Bachmann-Preisträgerin Olga Martynova: Die Wirbel der Zeit

Von einem zutiefst romantischen Geist inspiriert: Olga Martynova und ihr kaleidoskopischer Roman „Mörikes Schlüsselbein“.

Von Gregor Dotzauer

Wie man den verschlungenen Parcours dieses Buches am besten durchquert, steht auf Seite 283, kurz bevor Olga Martynovas zweiter Roman „Mörikes Schlüsselbein“ endet. Aber was heißt bei so vielen Ein- und Ausgängen, Zeitschichten und Ortswechseln schon Ende? „Alles wird berechnet“, notiert der imaginäre Dichter Fjodor Stern, „Filme, Bilder, alles verpackt und dem Publikum, dessen Vorlieben erforscht werden, angeboten. Ein von allen Seiten manipulierter Mensch liest, schaut, hört die Produktion, die genauso gut von Robotern erstellt sein könnte wie von Autoren, Musikern oder Künstlern.“ Die Konsequenz kann nur lauten: „Ein guter Roman muss eine mühsame Lektüre sein, unberechnet, vom Geschmack des Publikums nichts wissend.“ Wie ein genialer Schachspieler müsse sein Verfasser heute „mit Wagemut und scheinbarem Unsinn der Kombinationen irritieren“, um seinem Maschinengegner „eine Vorstellung von der unbegreifbaren Welt“ zu geben.

Die Dichterin Olga Martynova, 1962 im sibirischen Krasnojarsk geboren, scheint sich genau dieser Idee hingegeben zu haben. Zwischen ihrer Wahlheimat Frankfurt am Main und St. Petersburg, dem zwischenzeitlichen Leningrad, wo sie aufwuchs, zwischen Wien und Berlin, dem New York der Gegenwart und der kasachischen Steppe, in die Fjodors Großeltern vor der Wehrmacht fliehen, verknüpft sie die disparatesten Stränge, Episoden und Genres.

Man begegnet John Perlman, einem amerikanischen Slawisten mit geheimdienstlicher Vergangenheit, Antonia, einer russischen Ballerina und einem sibirischen Schamanen. Vor allem aber trifft man neben Fjodor Stern das deutsch-russische Paar Andreas und Marina wieder, das schon in Martynovas gleichfalls auf Deutsch geschriebenem Debütroman „Sogar Papageien überleben uns“ auftrat.

Andreas ist mittlerweile Professor Bach, ein Literaturwissenschaftler mit einer Studie über die Rolle der Deutschen im Russland des 19. Jahrhunderts im akademischen Gepäck, sie Mitarbeiterin eines europäischen Kulturfonds. Nach 20 getrennten Jahren begegnen sie einander wieder und verlieben sich erneut. Andreas hat unterdessen mit seiner geschiedenen Frau Sabine zwei Kinder großgezogen. Franziska hegt malerische Ambitionen, Moritz schriftstellerische, wobei diese zugleich einen Teil der Erzählung generieren: Nach dem Tod des Vaters erinnert der Sohn seine Version der Ereignisse. So geht es auf mehreren, hierarchisch nicht eindeutig gestaffelten Ebenen, durch Metamorphosen und Motivverkettungen hindurch, beständig vor und zurück.

Martynova hebt die Künstlichkeit der Welt hervor

Vom Stoff her ist „Mörikes Schlüsselbein“ ein ausufernder Familienroman, der vom Leben und Sterben erzählt – und von der Auferstehung der Toten in der Erinnerung Anderer. In seiner kaleidoskophaften Anlage ist es aber zugleich ein Versuch über das Fortleben von Büchern in anderen Büchern. Olga Martynova feiert ein wahres Fest intra- und intertextueller Bezüge.

Der letzte Absatz der „Papageien“, eine Erklärung des russischen Futuristen Alexander Wwedenskij zur Unwirklichkeit des Romans, taucht hier als vorangestelltes Motto wieder auf, und Nikolaj Leskows offenbar erfundener Roman „Die Insulanten“ wird aus mindestens drei verschiedenen Perspektiven verarbeitet. Daneben werden Hölderlin, Benn, E.T.A. Hoffmann und Jack Kerouac verarbeitet. Die strukturelle Offenheit des Unternehmens geht so weit, dass man das Material problemlos zu einem dritten Roman entfalten könnte.

Foto: Yves Noir/R.-Bosch-Stiftung
Foto: Yves Noir/R.-Bosch-Stiftung

© Robert Bosch Stiftung GmbH

Auch sonst scheut die Autorin keinen Aufwand, um die Künstlichkeit ihrer Welt hervorzuheben. Die Druckerschwärze verblasst mitunter zum Gedankengrau, andere Passagen werden eingerückt oder präsentieren sich in Schreibmaschinentypografie. Es gibt Listen voller Aufzählungen, Passagen, in denen sämtliche Adjektive eingeklammert sind, sowie doppelte und dreifache Kapitelüberschriften: Der Titel des jeweiligen Unterkapitels wird fett hervorgehoben, als würde man auf die Ebenen eines Computerprogramms klicken. Alles ist Text, ruft einem Olga Martynova zu. Die Wirklichkeit beginnt jenseits der Literatur.

Deshalb führt auch der Titel dieses von einem zutiefst romantischen Geist inspirierten Buches in die Irre. Mörikes Schlüsselbein, in einer Ausstellungsvitrine des Tübinger Stifts als Leihgabe des Stuttgarter Pragfriedhofs deklariert, ist der Knochen, den die Autorin plotsüchtigen Lesern zuwirft. Wenn man sich an diesem Hitchcock’schen McGuffin dennoch nicht die Zähne ausbeißt, liegt es daran, dass die artistische Konstruktion von einem verblüffend leichten, mit poetischem Charme und feiner Ironie jonglierenden Ton in Schach gehalten wird.

Olga Martynova: Mörikes Schlüsselbein. Roman. Droschl Verlag, Graz 2013.320 Seiten, 22 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false