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Perpetuum mobile. Der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr, 62.

© imago/Leemage

Neuer Roman von Christoph Ransmayr: Im Uhrwerk der Sekunden

Wortgewaltig, präzise, bildhaft: Christoph Ransmayr erzählt in „Cox oder der Lauf der Zeit“ vom Vergehen der Zeit im China des 18. Jahrhunderts.

Auf Knien nähern sich Cox und seine Gefährten dem leeren Thron, das Gesicht zu Boden geneigt, um bloß nicht den Frevel zu begehen, Qiánlóng, dem Herrn über zehntausend Jahre, dem mächtigsten Mann der Welt, in die Augen zu schauen. Und dann ertönt eine Stimme hinter einem Wandschirm, die einen Satz von scheinbar desillusionierender Banalität sagt: „Wie schnell die Zeit vergeht.“ Dafür, fragt sich Alister Cox, soll er sieben Monate lang um die Welt gesegelt sein? Er, der berühmteste Uhrmacher und Automatenbauer des Abendlandes. Cox wird schnell begreifen, dass der Satz des Kaisers ins Zentrum seiner, Cox’, Mission zielt: Letztlich geht es um nicht weniger als darum, die Zeit in der Ewigkeit aufzuheben. Oder: das Vergehen der Zeit unbedeutend werden zu lassen.

Wenn der 1954 geborene Christoph Ransmayr einen neuen Roman veröffentlicht, ist das in jedem Fall ein Ereignis. „Cox oder Der Lauf der Zeit“ ist Ransmayrs erster Roman seit „Der fliegende Berg“ (2006) und überhaupt erst der fünfte. Doch es sind nicht nur die Romane, die Zeugnis ablegen vom ästhetischen Programm Ransmayrs. Auch aus den Reiseberichten und -reflexionen, zuletzt in der großartigen Sammlung „Atlas eines ängstlichen Mannes“, lässt sich herauslesen, worauf Ransmayr in seinem Schreiben immer wieder zielt: auf die Verbindung von Fremdheit und Schönheit.

Zeit, die sich dehnt, schrumpft, rast

Jenen virtuosen Uhrmacher Cox hat es tatsächlich gegeben, wenn auch unter einem anderen Vornamen. Und der echte Cox ist auch niemals in China gewesen. Ransmayr schickt Alister Cox im Oktober des Jahres 1753 gemeinsam mit dreien seiner Mitarbeiter nach Peking, wo das europäische Quartett, nachdem es unmittelbar nach seiner Ankunft Zeuge einer grausamen Bestrafungszeremonie wurde, als Ehrengäste empfangen und in luxuriösen Häusern innerhalb der Mauern der Verbotenen Stadt untergebracht wird.

Die Beschreibung der so exotischen wie hermetischen, durch und durch nach ästhetischen Gesichtspunkten konzipierten Welt, lässt Ransmayrs ureigene Stärken aufscheinen: So wortgewaltig, vokabelreich und ausschweifend einerseits, so präzise und bildhaft andererseits, können tatsächlich nur wenige Autoren schreiben. Die Faszination für den Reiz der bloßen Erscheinung teilt Ransmayr im Übrigen mit Christian Kracht. Hinter Ransmayrs stilistischem Brillieren steckt allerdings auch in „Cox“ ein exakt ausgearbeitetes Erzählmodell. So wie dem Uhrmacher Cox die Architektur der Verbotenen Stadt in ihren Proportionen, Blickachsen und Ornamenten wie ein ausgeklügeltes Räderwerk vorkommt, so sind auch die Menschen in diesem Buch weniger Charaktere als Spielfiguren, die einem höheren Plan zu gehorchen haben.

Qiánlóng, der vierte Kaiser der Qing-Dynastie, galt als ein Universalgelehrter, der den schönen Künsten gegenüber höchst zugewandt war. Er beauftragt Cox und seine Helfer mit dem Bau von Automaten, die nicht die reale, sondern die gefühlte Zeit in eine mechanische Entsprechung setzen sollen. Die Zeit wird von Ransmayr auf geschickte Weise in ein ambivalentes Licht gerückt: Zum einen behält sie ihre Funktion als streng messbare Konstante, zum anderen aber wird sie ihrem unbestechlichen Fortschreiten enthoben. Sie wird individualisiert. Zeit kann sich dehnen, für Kinder, für Liebende, für Sehnsüchtige. Oder sie kann schrumpfen, wie für jene zum Tode verurteilten Männer, in deren Kerker der Kaiser Cox führen lässt, um ein Gespür für das Rasen der Zeit zu bekommen.

Kitsch droht, wo die Liebe kommt

Man ist unterwegs. Zu Recherchezwecken wird eine Expedition an die Große Mauer organisiert, die mit einem verstörenden Zwischenfall endet. Die aufwendig ausgemalten Szenen, die Ransmayr entwirft, sollen und wollen in ihrer Opulenz überwältigen, und bei einem Könner wie Ransmayr gelingt das auch. Es ist gleichgültig, ob er über die brutale Folterung zweier Gefangener oder über den Anblick einer verschneiten Waldlandschaft schreibt – die Sprache bleibt sich gleich. Wer Ransmayr Kitsch vorwirft, zielt damit auf den Ton des Erhabenen, der hier gepflegt wird, und der in seiner radikalen Ästhetisierung sämtliche Erscheinungsformen der Welt, den Schrecken wie die Schönheit einschließt.

Wenn „Cox“ überhaupt jemals in Kitschnähe kommt, dann allerdings – und das war bereits in „Der fliegende Berg“ ein Problem – wenn die Liebe ins Spiel kommt. Cox ist ein doppelt Trauernder: Seine fünfjährige Tochter ist gestorben; seine junge Frau daraufhin verstummt. In China trifft er auf eine junge Frau, ausgerechnet die Lieblingskonkubine des Kaisers, in der Cox das Spiegelbild des toten Kindes und seiner ihm fernen Frau zugleich erkennt. In diesen Passagen wird es heikel, doch sind sie auch sparsam dosiert, glücklicherweise.

Die große Pointe

Beeindruckend dagegen ist die Eleganz, mit der Ransmayr ganz nebenbei nicht nur mit der Mechanik von Uhrwerken spielt, sondern en passant die großen Mechanismen eines totalitären Systems kenntlich macht, die permanente Angst vor Grausamkeiten bei geringsten Vergehen, die Missgunst und die Intrigen hinter den Kulissen, die Machtkämpfe im riesigen Apparat des Kaisers. Dessen dritter Auftrag an Cox ist dann schließlich auch die größte Herausforderung: „Ein Uhrwerk, das die Sekunden, die Augenblicke, die Jahrhunderttausende und weiter, die Äonen der Ewigkeit messen konnte und dessen Zahnräder sich noch drehen würden, wenn seine Erbauer und all ihre Nachkommen und deren Nachkommen längst wieder vom Angesicht der Erde verschwunden waren.“ Ein Perpetuum mobile also, in Auftrag gegeben von jenem Mann, mit dessen Tod, wie man sagt, zugleich die Zeit angehalten sei. Das ist die große Pointe in Ransmayrs weniger von einem stringenten Plot als von sprachlicher Überwältigungskraft zehrenden Roman: Dass seine Dingwelt ihn und alle Figuren überdauern wird.

Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016.´ 303 Seiten, 22 €.

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