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Engagiert. Will mit dem Preisgeld des Dublin International Literary Award eine öffentliche Bibliothek finanzieren: José Eduardo Agualusa.

© C.H. Beck

Neuer Roman von José Eduardo Agualusa: Unter den Himmeln Afrikas

Sinnlich, emphatisch, überwältigend: José Eduardo Agualusa hält in seinem neuesten Roman "Eine allgemeine Theorie des Vergessens" den Wandel und die Wunden seiner Heimat Angola fest.

Kaum eine Skyline verändert sich so rasant wie die von Luanda, der Sieben-Millionen-Hauptstadt von Angola. Das häufig aus chinesischen Quellen stammende Erdöl-Kapital manifestiert sich in immer steileren Prunkbauten aus Stahl, Glas und Beton. Die farbenfrohe Architektur der portugiesischen Kolonialisten, die im 15. Jahrhundert in Westafrika anlangten, droht hingegen zu verschwinden. Von 1951 bis zum Unabhängigkeitstag am 11. November 1975 war Angola portugiesische Überseeprovinz, bewohnt von stolzen „Portugiesen der sieben Gestade“. In dieser Epoche errichtete Apartmentresidenzen mit Blick auf den Atlantik erregten im damaligen „Paris Afrikas“ noch Aufsehen.

In einem solchen „Haus der Beneideten“ siedelt José Eduardo Agualusa seinen Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“, ein Kammerspiel mit überwältigender Panoramaaussicht. Denn so, wie sich der 1960 im angolanischen Huambo geborene Agualusa mit „Ein Stein unter Wasser“, „Das Lachen des Geckos“ oder „Die Frauen meines Vaters“ (drei seiner Romane liegen auf Deutsch beim A1-Verlag vor) als poetischer Historiograf seiner Heimat profiliert hat, so beobachtet auch seine Hauptfigur Ludovica Fernandes Mano den Wandel Angolas von oben. Sie wohnt im obersten Stockwerk, direkt unter einem gewaltigen südlichen Himmel, für den der Autor und sein bewährter Übersetzer Michael Kegler herrliche Metaphern finden. Ursprünglich wollte José Eduardo Agualusa aus den zehn Tagebüchern, welche die tatsächlich existierende Ludovica „Ludo“ Fernandes Mano 2010 hinterlassen hatte, ein Drehbuch für einen Spielfilm verfassen. Doch es kam anders, und so entstand aus Ludos zahlreichen Schriften, die sie auch mit Kohle auf den Wohnungswänden festhielt, „reine Fiktion“, erläutert der Autor in einer Vorbemerkung.

Am 21. Juni wurde Augualusa für diese geschmeidige Fiktion, in der wie im Traum jäh Grausamkeiten aufblitzen, zusammen mit seinem englischen Übersetzer Daniel Hahn geehrt: Die beiden erhielten den mit 100 000 Euro dotierten International Dublin Literary Award für ein nicht auf Englisch verfasstes Werk in Übersetzung. Über die Vergabe entscheiden die Nutzer öffentlicher Bibliotheken, was den Preisträger besonders freute.

Sie sind wesensverwandt, beide ein Missverständnis

„Sie waren Wesensverwandte, beide ein Missverständnis, Fremdkörper im überschwänglichen Organismus der Stadt“, heißt es über Ludo und ihren Affen Ché Guevara. Zusammen mit dem schneeweißen Hund Fantasma bildet das Trio eine Schicksalsgemeinschaft, die an die aus allen sozialen Zusammenhängen gefallene Frau samt ihren Tieren an Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ erinnert. Denn die Junggesellin Ludovica mauert sich im Herbst 1975 aus Angst vor der Revolution für Jahrzehnte in ihrem Hochhaus ein. Kurz zuvor hat sie in Notwehr einen Einbrecher erschossen und den Leichnam auf der Dachterrasse begraben. Die gebürtige Portugiesin war unfreiwillig nach Angola gekommen, im Schlepptau ihrer Schwester Odete, die dort einen Ingenieur aus den Diamantminen geheiratet hatte: „Der Himmel Afrikas ist viel größer als unserer, erklärte sie ihrer Schwester: erdrückend.“

Eines Tages verschwinden Schwester und Schwager spurlos. Ludovica bleibt mit einigen Diamanten zurück, mit denen sie Tauben anlockt, um sie zu braten, darunter auch eine Brieftaube mit einer Botschaft für einen Revolutionär. Vom Balkon unter ihr stiehlt sie mit einer Schnur Hühner und legt eine Zucht an.

Die Einsiedlerin verfeuert Möbel, Fußböden und, widerstrebend, Bücher. Seit ihrer Jugend leidet Ludovica unter Agoraphobie, der schwindelerregenden Angst, freie Plätze zu überqueren. Erst gegen Ende wird deren wahrer Grund enthüllt. Agualusa macht seine Heldin zur heimlichen Patronin Luandas, die die Veränderungen der Stadt stoisch registriert, und lässt ihre Marotten unhinterfragt: „Glühwürmchen funkeln durchs Zimmer. Wie eine Qualle schwebe ich durch das leuchtende Zwielicht. Versinke in meinen eigenen Träumen. Vielleicht ist es das, was man Sterben nennt.“ Als sie eines Tages ein Nilpferd erblickt, ist sich Ludo ihres Verstandes nicht mehr sicher, was sie aber nicht weiter beunruhigt.

Der dreißigjährige Bürgerkrieg verletzt die Biografien

„Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ beschränkt sich keineswegs auf sympathetische Impressionen eines ungelebten Frauenlebens, das sich nur in der Schrift manifestiert. Vielmehr wird das „Haus der Beneideten“ zum Schnittpunkt verschiedenster angolanischer Biografien, die allesamt durch den dreißigjährigen Bürgerkrieg tangiert werden. Auch Gefangene sind darunter, die wie Ludo den Zustand „der fast vollständigen sozialen Unsichtbarkeit und der Semidemenz“ kennen, „in dem das Bewusstsein höchstens im Zwischendeck reist“. Diesen verschiedenen Nebencharakteren sind eigene Kapitel gewidmet, etwa dem Journalisten Daniel Benchimol.

Er sammelt „Geschichten über das Verschwinden in Angola“ und bewertet sie auf einer Skala – von einem vermissten französischen Schriftsteller, dessen Hut in einer Diskothek auftaucht, bis zu zahlreichen unauffindbaren Flugzeugen. Solche eher theoretischen Fragen kontrastiert José Eduardo Agualusa mit seinem sinnlichen, traumsicheren Stil und in afrikanischer Lässigkeit mäandernden Details. In seiner Dubliner Dankesrede drückte er die Hoffnung aus, dass Literatur die „Muskeln der Empathie“ entwickle. „Eine allgemeine Theorie des Vergessen“ führt das in aller Leichtigkeit vor: ein Lektüreereignis.

José Eduardo Agualusa: Eine allgemeine Theorie des Vergessens. Roman. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. C.H. Beck, München 2017. 189 S., 19,95 €.

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