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Neukölln-Roman: Wir Sanierungsbedürftigen

"Rechnung offen": In ihrem Roman skizziert Inger-Maria Mahlke mit kühlen Blick das Bild einer prekären Gesellschaft.

Die Hölle des täglichen Lebens, das wissen wir spätestens seit Udo Jürgens’ „Ein ehrenwertes Haus“, das sind die Nachbarn. Oder: Sie können es zumindest sein. Die, die kontrollieren und sich beschweren; die Hydrokulturkügelchen auf der Treppe auslegen, um zu prüfen, ob der Wochenputz erledigt wird. Die vor dem Haus stehen und die Falschparker aufschreiben. All das gibt es in IngerMaria Mahlkes Roman „Rechnung offen“ nicht. Und nach kurzer Zeit wünscht man sich etwas davon. Denn noch unerträglicher, deprimierender und erschreckender als eine allumfassende soziale Überwachung erscheint in Mahlkes Roman deren Gegenteil – das komplette Desinteresse an den Menschen, von denen man umgeben ist, selbst wenn es sich dabei um die eigene Familie handelt.

Ohne Attitüde und erzählerische Sperenzchen baut Mahlke ein eiskaltes Szenario inmitten unserer Gegenwart auf. Der Eindruck, der sich schon vergangenes Jahr bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt einstellte, auf denen Mahlke einen Auszug aus dem Roman vorlas (und dafür den Ernst-Willner-Preis erhielt), bestätigt sich nun, da der Roman im Ganzen vorliegt: „Rechnung offen“ ist eine der bemerkenswerten Neuerscheinungen in diesem ansonsten wenig bemerkenswerten Bücherfrühjahr.

Hauptschauplatz ist ein Mietshaus in Berlin-Neukölln. Dessen Bewohner leben, monadisch eingesponnen in die Vergangenheit, in ihre Lebensumstände, in ihre Daseinskalamitäten, nebeneinander her. Hin und wieder kommt es zu Begegnungen, die mehr oder minder zufällig und austauschbar sind. Im Erdgeschoss haust eine Gruppe junger Nordafrikaner, die mit Drogen handelt. Darüber die alte Elsa, deren Demenzerkrankung sich im Verlauf des Romans zunehmend verschlechtert. Die Kriegserlebnisse, die Bombennächte, die Nachkriegszeit – all das ist bei Elsa scharf gestellt und, wenn auch ungeordnet, zumindest präsent. Ihren eigenen Enkel Nicolai hingegen erkennt sie nicht mehr wieder. Geld steckt sie ihm trotzdem regelmäßig zu.

„Rechnung offen“ ist ein Wimmelbild, in dem sehr viel passiert und in dem das Geschehen auf elegante Weise in innere Zusammenhänge gebracht wird. Ebba, die übergewichtige junge Frau aus dem zweiten Stock, die regelmäßig bei den Afrikanern im Erdgeschoss einkauft, ist die Tochter des Hauseigentümers, des Gesprächstherapeuten Claas, der sich eines Tages als Bewohner seines eigenen Mietshauses wiederfindet, nachdem seine Frau ihn aus der Charlottenburger Designerwohnung herausgeworfen und mitsamt seinen 500 000 Euro Schulden alleingelassen hat, die Claas bei diversen Internet-Bestellportalen angehäuft hat. Ebba lebt inmitten unausgepackter Umzugskartons und verschimmelnder Teller und Tassen. Ihren Eltern gegenüber behauptet sie, sie mache eine Ausbildung zu Erzieherin. Wie grausam das Personal in Mahlkes Roman miteinander umgeht, zeigt sich paradigmatisch in einer Szene, in der Ebba mit ihren Eltern essen geht, um ihre angeblich bestandene Prüfung zu feiern. Sie bestellt, nicht allzu exotisch, eine Vor- und eine Hauptspeise. „Ebba, bitte“, sagt ihre Mutter da nur, und in diesen zwei Worten enthüllt sich ein ganzes Familiendrama, offenbaren sich Demütigungen, Bevormundungen, Übergriffe.

Das Neuköllner Haus ist stark sanierungsbedürftig. Genau wie seine Bewohner. Dass daraus keine platte Analogie erwächst, sondern ein differenziertes Gesellschaftsbild, ist dem Können der Autorin anzurechnen. Dass die innere Verwahrlosung all dieser Menschen Resultat einer ökonomisch und sozial angespannten Gesamtsituation ist, die weit über das Private hinausgeht, zeigt sich anhand einer Figur, die im Roman einen Sonderstatus erhält: Manuela, eine junge, alleinerziehende Mutter wird von Inger-Maria Mahlke in der zweiten Person angesprochen. Das schwesterlich verbündende Du wirkt nur auf den ersten Blick irritierend. So nahe, wie Mahlke der Figur kommt, so gnadenlos wird sie ausgeleuchtet.

Manuela ist der Extremfall, in jeder Hinsicht. Ihren Job in einem Backshop kündigt sie, um als Aushilfsdomina anzuheuern. Als sie genug Geld verdient hat, lässt sie ihr Lackkostüm und ihren achtjährigen Sohn in der Wohnung zurück und macht sich aus dem Staub. „Rechnung offen“ ist ein pessimistischer, kühl diagnostischer Roman, in dem sich keine Hoffnungsluken auftun. Den katastrophischen Schlusspunkt, den Inger-Maria Mahlke setzt, hätte es gar nicht gebraucht. Auch so haben wir verstanden: Wir leben in einer kühlen, entsolidarisierten Epoche.

Inger-Maria Mahlke: Rechnung offen. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2013. 284 Seiten, 19,99 €.

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