zum Hauptinhalt

Kultur: Neuschwanstein für alle

Eine

von Michael Bauer

Im Halbdunkel zwischen blau angestrahlten Ziegelwänden sitzen rund 400 Damen und Herren in Abendrobe. Dunkle Brillen machen ihre Gesichter unkenntlich. Opus Dei, Siemens oder die Mafia? Eine Einladungskarte zwischen Sekt-Saftgläsern und Weihnachtsgebäck verrät, dass man sich im Kreise erlauchter, meist schon ergrauter Naturwissenschaftler befindet. Jetzt hocken sie hinter 3-D-Brillen vor einer Projektionswand, die ihnen Voralpenlandschaften mit königlich-bayerischen Schlössern vorgaukelt.

Neuschwanstein als Hogwarts. Wie bei Harry Potter überfliegt man Schlosshöfe, schwebt durch Innenräume, schreitet durch Mauern. Doch statt Dumbledore erscheint Ludwig II., überlebensgroß und dreidimensional – ein Märchenkönig virtuell auferstanden. Gerd Hirzinger, ein international gefeierter Roboterexperte vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, porträtiert den König als einen „3-D-Freak“, der schon damals alles daran gesetzt habe, seine Traumwelten mit Hilfe neuester Technik Wirklichkeit werden zu lassen.

In liturgischer Eintracht setzt die Abendgesellschaft in der Allerheiligen- Hofkirche der Münchner Residenz ihre dunklen Brillen auf und wieder ab. Mit Hilfe einer hoch auflösenden Stereo-Kamera, wie sie derzeit von Oberpfaffenhofen aus den Mars vermisst, war Bayern zunächst aus der Luft zentimetergenau erfasst und filmisch animiert worden. Gemeinsam mit der Münchner Multimedia-Schmiede metamatix scannte Hirzinger daraufhin die Fassaden und Innenräume berühmter Baudenkmäler. Nachts hatten Laserkanonen Thronsäle und Kirchenschiffe Zentimeter für Zentimeter abgetastet. Selbst im Krieg zerstörte Bauwerke und Luftschlösser Ludwigs II. erstehen anhand erhaltener Pläne im Computer dreidimensional wie real.

Das Gären von Sekt und Säften in den Mägen der Festgäste setzt kurz aus, als Hirzinger von einem Riesenmeteoriten erzählt, der vor ein paar Jahren um ein Haar das Märchenschloss im Allgäu getroffen hätte. Neuschwanstein aus dem All zerschmettert – eine weißblaue Apokalypse. Doch kräftiger Fön hatte den Meteoriten um ein paar hundert Meter abgelenkt. So ward das Schloss auch ohne 3-D-Brille gerettet.

Wissenschaftlich ist das Projekt „Virtuelles Bayern“ allemal ein Volltreffer. Kulturgüter und Reiseziele mit neuesten Rechenmethoden als Animation auf den PC zu zaubern, soll auch wirtschaftlich ein Erfolg werden. Schon jetzt kann man Berlin, München und die Zugspitze dank digitaler Luftbilder interaktiv bereisen, die entsprechenden DVDs sind im Handel. Doch was, wenn Japans Touristen Deutschlands Schlösser, Berge und Seen künftig nur noch virtuell besuchen? Woody Allen sagte mal, er hasse die Realität. Aber wo sonst bekomme man schon ein gutes Steak? Das zumindest gilt auch für das bayrische Bier und alle durstigen Japaner.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false