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Kultur: Neusilber

Carsten Nicolai in der Galerie Eigen und Art

Sofort die Augen schließen, befiehlt das Gehirn. Gegenüber der Tür zur Galerie Eigen und Art hat Carsten Nicolai eine riesige Wand aus Holz und hellroter Kunststofffolie aufgebaut. In ihrem Inneren brennen Neonröhren. Das gleißende Rot schmerzt. Doch geschlossene Lider nutzen in einer Ausstellung wenig. Umdrehen wäre also eine Alternative, und siehe da: Auf der verbreiterten Fensterbank liegen vier kleine Skulpturen aus gelblich glänzendem Neusilber. Statt den Besucher zu erschrecken, locken die amorphen Figuren ihn heran: Anfassen möchte man ihre vielen kugelrunden Ausbuchtungen und darf es auch.

Es sind Abgüsse von Ballons, in die Nicolai Tischtennisbälle gestopft hat. Kaum zu glauben, doch im kleinsten Ballon sollen 53, im größten 130 Bälle gesteckt haben. „Cluster“ heißt die Serie, mit der der Berliner Klang- und Installationskünstler Höchst sinnlich an die Gedanken erinnert, die sich der Astronom Johannes Kepler vor rund vierhundert Jahren über die maximale Dichte von Kugeln in dreidimensionaler Anordnung machte. Es geht, wie stets bei Carsten Nicolai, um physikalische Phänomene und ihr Potenzial für Kreativität: Jeder Obsthändler bestätigt die „Kepler’sche Vermutung“, wenn er Apfelsinen zu einer rutschfesten Pyramide stapelt.

Nicolai, 1965 geboren und mit seinen Arbeiten unter anderem in den Sammlungen des Leipziger Kunstmuseums und der Bundesrepublik vertreten, hat schon aus nacktem Strom Musik gemacht und Klänge in Glaskolben gesperrt. Er hat Schneekristalle gezüchtet und viel mit Schwarz und Weiß gearbeitet. Hier jedoch dominieren Wärme und Farbe. Rechts und links der roten Leuchtwand hängen drei Tafelbilder aus sonnengelber, halb transparenter Technikseide, hinter der ein Farbdruck den Schatten eines Fensterkreuzes vorgaukelt. Bei „tired light“, so der Titel, dachte Nicolai an die „Lichtermüdung“, an jene Lichtwellen, die Aufschluss über die Geschwindigkeit von Himmelskörpern geben. Mit ihrer Berechnung haben Astronomen im 20. Jahrhundert, wenn man so will, die Planetenlehren von Kopernikus und Kepler aktualisiert. Keine Erkenntnis hält ewig, aber es war auch keine umsonst.

In der Kunst stößt Erkenntnisfortschritt oft auf Skepsis, wenn etwa Thomas Zipp in seinen Anspielungen auf Kepler Wissenschaftsgeschichte dunkel malt. In der Galerie Eigen und Art verhält es sich andersherum. Nach rund zehn Minuten haben sich die Augen entspannt. Und mehr noch: Sie können jetzt erkennen, wie das Zusammenspiel von Rot, Gelb und ihrer Spiegelungen im Neusilber den Raum in freundlichen Spektralfarben erhellt und für eine konzentrierte Atmosphäre sorgt. Die Ausstellung von Carsten Nicolai ist eine Hommage an Licht und Enlightenment – an die Aufklärung.

Galerie Eigen und Art, Auguststr. 26; bis 28. Juni, Di–Sa von 11–18 Uhr.

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