zum Hauptinhalt
Generationenvertrag. Tochter Cordelia (Katharina Thalbach) schiebt den verwirrten Vater Lear (Felix von Manteuffel).

© Thomas Raese

Neustart im Berliner Renaissance-Theater: Töchter an die Macht

Die modernisierte Fassung von „König Lear“ trägt die Handschrift des Intendanten Guntbert Warns. Mit Katharina Thalbach und Felix von Manteuffel.

Sondervorstellung, das klingt wie Extrablatt. Ein Werk, eine Nachricht drängen unverzüglich in die Welt. Dass das beim Neustart des Berliner Renaissance-Theaters ein schwerer Brocken Shakespeare ist, macht angesichts des Theaternamens Sinn.Allerdings könnte man sich für die kurzfristig anberaumte Nach-Lockdown-Bespielung einer Privatbühne, die sonst meist Zeitgenössisches spielt, leichtere Kost vorstellen als den komplexen Klassiker.

Die reguläre Premiere ist erst im Herbst

„König Lear“ jedoch ist die erste große Inszenierung des Intendanten Guntbert Warns. Der Regisseur und Schauspieler arbeitet seit 2007 am Haus und hat im vergangenen September die Leitung von Horst-H.Filohn übernommen.

Warns’ pandemiebedingt verschobener „Lear“ ist zwar fertig geprobt, doch die reguläre Premiere folgt am 1. Oktober. Also spielen sie diese Woche Sondervorstellungen.

Klar, dass der Chef zu Beginn des Abends auf die Bühne tritt und das kurz erklärt. „Ich freue mich, dass Sie es gewagt haben, ins Theater zu gehen“, begrüßt Guntbert Warns die auf Abstand sitzenden Leute. „Sie haben das Glück, das Stück schon vor der Premiere sehen zu dürfen.“

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]

Wie auf Bestellung, aber offensichtlich ungeplant, dudelt in der dritten Reihe ein Handy mit einem Klingelton aus dem Musical „Cabaret“ los: „Willkommen, bienvenue, welcome“.

Ein knapp dreistündiges Spiel in Schwarz, Rot, Gold beginnt. Das sind die drei Signalfarben der von Wicke Naujoks (Kostümbild) und Momme Röhrbein (Bühne) entworfenen Ausstattung.

Sie schafft im Verein mit Licht und Schminke ein ums andere Mal poetische Bilder, die mit schlichten, aber wirkungsvollen Mitteln wie raschelnder Goldfolie und gebauschtem Tuch arbeiten. Das macht wirklich Spaß an diesem „Lear“: die trotz allfälliger Sturm-Projektionen immer noch handgemachte Theaterillusion nah dran entstehen zu sehen.

Follower statt Soldaten

Ansonsten gibt es im Doppeldrama von Lear (Felix von Manteuffel), der Macht und Reich den drei Töchtern überantwortet, und Gloucester (Klaus Christian Schreiber spielt ihn als Herzogin!), deren Söhne Intrigen spinnen, wenig zu lachen.

Auch in der modernisierten Textbearbeitung von Thomas Melle werden die mythischen Britannier von den Mechanismen der griechischen Tragödie zerrieben.

Verblendung, Machtgier, Eitelkeit, Verrat, Narrheit, Katharsis, Brutalität überall. Nur, dass Lear statt Soldaten jetzt auch Follower hat.

Katharina Thalbach spielt Cordelia

Hilft nix, schadet aber auch nix, möchte man da den Modernisierungsverächtern zurufen, die jetzt mit den Augen rollen. Die vom Narren angebetete Autorität des Königs bröckelt schneller, als die Töchter Goneril (Catrin Striebeck) und Regan (Jacqueline Macaulay) sie der dritten vorenthalten könnten. Auch die Gute ist so harmlos nicht: Katharina Thalbachs Cordelia mutiert vom kindlichen Pierrot zur wüst bemalten Kriegerin.

Überhaupt die Frauen! Sie beweinen ihr Geschick in diesem durch die Hybris des alten weißen Mannes losgetretenen Schicksalsstrudel weit weniger selbstverliebt als die Lords.

Sie wollen das Neue

Angesichts des in der ersten Hälfte des Abends dauertobenden Lear, den Felix von Manteuffel erst am Ende mit der nötigen Greisenfragilität ausstattet, kommen die trotzigen Lakonikerinnen Goneril und Regan geradezu sympathisch rüber. Sie wollen Neues, auch wenn dafür Altes vernichtet gehört.

Nur das Augenausreißen müssen Striebeck und Macaulay noch üben. Angetan mit Metzgerschürzen richten sie Gloucesters Blendung als blutige Slapsticknummer zu, bei der das Timing schleppt. Ganz anders als im Tragödienfinale der farbenreicheren zweiten Hälfte.

["König Lear" im Renaissance-Theater, jetzt bis 13. Juni, im Herbst wieder ab 1. Oktober]

Da findet der Schlagabtausch zwischen den Schwestern, die blaues Gift spucken, und den Gloucester-Söhnen Edgar und Edmund in pantomischer Slowmotion zu Stroboskopgewittern statt. Eine tarantinoeske Szene im „Kill Bill“-Format, die absurden Witz und Präzision hat.

Auch sonst schont sich das Ensemble nicht. Groß ist die Spielfreude nach der unfreiwilligen Bühnenabstinenz. Michael Rotschopf in der Doppelrolle als Narr und königstreuer Kent hängt sich besonders rein. An Lässigkeit überbietet ihn nur Moritz Carl Winklmayr, der skrupellose Edgar.

Frauen haben den letzten Stich

Das in zwei Fassungen existierende Ende, das durch die Jahrhunderte oft zugunsten der Versöhnung zwischen Lear und Cordelia gekürzt wurde, setzt den stärksten Punkt der Neuinterpretation.

Da gehört den Geistern von Goneril und Regan der letzte Stich. „Einmal noch mussten wir’s machen wie sie, / der Schnitt ist geglückt, also fragt uns nicht, wie“, ruft es chorisch aus dem Off. „Auch wir finden’s traurig, auch wir leiden mit / Doch kein Paradies ohne Höllenritt“, rechtfertigen die Frauen die von den Männern abgeguckte Gewalttätigkeit. „Bald sind es solche wie wir, die entscheiden / Vielleicht lässt sich dann das Schlimmste vermeiden.“ Berechtigte Zweifel bleiben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false