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Kultur: New York ist kaputt und China bestimmt den Dollarkurs

Chatten, Streamen, Shoppen: Gary Shteyngarts komisch-kluger Zukunftsroman „Super Sad True Love Story“

Gegenwärtig soll sie sein, die Gegenwartsliteratur – in ästhetischer und in analytischer Hinsicht. Der Kritiker Richard Kämmerlings hat diese These erst kürzlich in einem Buch zur literarischen Lage des Landes ausgeführt. Alles Gedruckte, das den Geist der Zeit nicht seismographisch erfasst, kommt ins Kröpfchen, der Rest, sofern auch formal überzeugend, ins Töpfchen. Die damit verbundene Klage über ein Zuwenig an literarischer Gegenwart muss der US-amerikanischen Literaturkritik absurd vorkommen. Denn dort hat eine ganze Schriftstellergeneration zum Schwanengesang angesetzt.

Passend zur Diagnose, Amerika stehe vor dem politisch-moralischen Bankrott, verstört derzeit die Meldung von seiner bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit. Die USA als groß angelegtes Pleiteunternehmen: David Foster Wallace, Jonathan Lethem und jetzt auch Gary Shteyngart mit seinem Roman „Super Sad True Love Story“ haben dieses Szenario auf je eigene Weise beschrieben und interpretiert. Gehen diese Autoren als große Krisendichter unserer Zeit in die amerikanische Literaturgeschichte ein?

Gary Shteyngart, der lange im Schatten seiner berühmteren Generationsgenossen stand, hat mit seinem Roman ein erschütternd kluges und zugleich fulminant komisches Buch über seine amerikanische Heimat geschrieben – skurril, aber nicht zu abwegig, damit genau jener Rest von Unbehagen bleibt, der eine gute Science-Fiction-Story ausmacht. Schauplatz ist New York: konsumistisch pervertiert, mehr Behauptung als Lebensraum. Wie in Jonathan Lethems „Chronic City“ wird von einer bevorstehenden Revolution gesprochen. Ein Krieg herrscht irgendwo in Venezuela. Daheim ist die Partei der „Überparteilichen“ mit fiesen Überwachungsmethoden auf dem Vormarsch. Der Dollar ist längst an den chinesischen Yuan gekoppelt, am Wegesrand aufgebaute „Kreditmasten“ überprüfen die Bonität der Passanten. Und alle US-Bürger sind mit sogenannten „Äppäräten“ ausgestattet – Smartphones mit Streaming- funktion sowie diversen Ranking Tools, anhand derer Daten zu x-beliebigen Personen recherchiert und analysiert werden können.

Über die Hauptfigur Lenny Abramov, wie Shteyngart Kind jüdisch-russischer Einwanderer, lässt sich mithin Folgendes in Erfahrung bringen: „Jahreseinkommen im Fünfjahresschnitt $ 289420, Yuan-gekoppelt, damit unter den oberen 19 % der US-Einkommensverteilung. Alter 39, geschätzte Lebenserwartung 83 Jahre (47 % der Lebensspanne verstrichen, 53 % verbleibend). Beschwerden: hoher Cholesterinspiegel, Depressionen. Letzte Einkäufe: gebundenes, gedrucktes, nicht streambares Medienerzeugnis, € 35.“

Lennys größtes Problem: Er arbeitet in einem Unternehmen für „posthumane Dienstleistungen“, das seinen Klienten das ewige Leben verspricht. Doch Lenny selbst beschließt: „Ich werde sterben.“ Das und seine Vorliebe für gedruckte Bücher macht ihn zum gefährlichen Außenseiter einer optimierungssüchtigen, „nachschriftlichen“ Gesellschaft. Ausgerechnet bei einer Dienstreise in die ewige Stadt Rom lernt Larry dann sein zweites Problem kennen: „Eine Frau in NanoGröße, die wahrscheinlich noch nie das Kitzeln des eigenen Schamhaars gespürt hatte, der sowohl Brust als auch Körpergeruch fehlten, die ebenso gut auf dem Display eines Äppäräts wie vor meinen Augen auf der Straße existierte.“ Die koreanischstämmige Eunice Park ist die ideale Repräsentantin ihrer „Open-Access-Generation“. Jede Emotion pariert sie mit exzessivem Chatten, Streamen und Shoppen bei einem Dienst namens AssLuxury, im Hauptfach studiert sie „Images“, im Nebenfach „Selbstsicherheit“, und schon im Kindergarten wurde sie mit den inzwischen inflationären Pornos gefüttert. Eine perfekte Kunstfigur, wäre da nicht ein dunkles Familiengeheimnis, das ihr einen Hauch von Authentizität verleiht und sie in Lennys Augen für die wahre Liebe prädestiniert.

Während die Geschichte ihren tragischen Lauf nimmt, brechen in New York bürgerkriegsartige Unruhen aus. Menschen, die von ihren „Äppäräten“ getrennt wurden, begehen Selbstmord. „Einer schrieb ziemlich eloquent, er habe versucht, ,nach dem Leben zu greifen’, sei aber nur auf ,Wände und Gedanken und Gesichter’ gestoßen, und das habe eben nicht gereicht. Er brauche Rankings, er müsse seinen Platz in der Welt kennen.“

Gary Shteyngart hat seinen Platz in der amerikanischen Literatur spätestens mit diesem Buch gefunden. Er lässt unsere schlimmsten Befürchtungen wahr werden, indem er New York mit idiotischen Datenjunkies bevölkert. Es ist eine große verkümmerte Welt, in der die Sprache der Shortcuts und Akronyme herrscht, so desolat, dass man sie auf der Stelle verhindern will. „Ich lerne, das Display meines neuen Äppäräts zu verehren“, sagt Lenny einmal, „sein farbenfroh pulsierendes Mosaik, die Tatsache, dass er jedes hinterletzte Detail über die Welt weiß, während meine Bücher doch immer bloß die Gedanken ihrer Autoren kennen.“ Wenn sie so klug und zudem unterhaltsam sind wie die von Shteyngart, lässt man sich gerne darauf ein – in Buchform oder auch auf jedem handelsüblichen digitalen Lese-Äppärät.

Gary Shteyngart

Super Sad True Love Story. Roman. Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke.

Rowohlt, Reinbek 2011. 464 Seiten, 19, 95 €.

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