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Kultur: Nicht nur Sozialwohnungen

Das Nationalkomitee Denkmalschutz würdigt die Sechzigerjahre

Mit der Abkehr von den Idealen der Nachkriegsmoderne erhielt in den Siebzigerjahren auch die Vergangenheit wieder eine Zukunft. So zumindest versprach es das Motto des europäischen Denkmalschutzjahres 1975. Maßgeblich getragen wurde die Veranstaltung in Deutschland vom 1973 eigens gegründeten Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz. Seitdem gehört es mit seinen zahlreichen Tagungen und Veröffentlichungen zu den Vorreitern in Fragen von Denkmalschutz und Denkmalpflege. Dass sich daran auch im dreißigsten Jahr seines Bestehens nichts ändert, beweist das Buch von Ralf Lange über „Architektur und Städtebau der sechziger Jahre“, mit dem sich das Nationalkomitee innerhalb seiner Schriftenreihe nach den zuvor mehrfach beleuchteten Fünfzigerjahren allmählich an die Zeit seiner eigenen Gründung heranwagt.

Einst als bewusste Gegenpositionen zur tradierten Architektur errichtet, entsprechen die Betonkirchen und Rathäuser, die frühen Einkaufszentren und ambitionierten Veranstaltungshallen, die Lange vorstellt, heute nicht mehr dem architektonischen Mainstream. Und so wie man in den Sechzigerjahren nicht gerade zimperlich mit dem gebauten Erbe umging, so sind heute die Bauten dieser Epoche massiv von Veränderung und Abriss bedroht. Das ist teilweise selbstverschuldet, denn im Überschwang der Utopien waren nicht alle Konzepte der Sechzigerjahre wirklich gut. Und mancher Bau besitzt zudem eine allzu dünne Betonhaut, die die Träger im Inneren heute leicht rosten lässt.

Doch vor allem der städtebauliche Paradigmenwechsel, der von der Moderne weg- und zur Postmoderne hinführte, sowie die baupolitisch sanktionierte Sucht nach maximierter Grundstücksausnutzung sind die Hauptfeinde der Sechzigerjahre-Architektur. Neben einführenden Texten zum Baugeschehen der Zeit in Bundesrepublik und DDR sowie den städtebaulichen und architektonischen Ansätzen nach 1960 liefert Langes Buch vor allem einen umfangreichen Katalogteil. Nach Bauaufgaben gegliedert, lässt er so ein Jahrzehnt lebendig werden, das wie kein zweites die deutschen Städte bis heute prägt. Langes Beispiele könnten leicht um etliche weitere qualitätvolle Bauten ergänzt werden. Sie alle machen deutlich, dass sich entgegen den gängigen Klischees die Architektur der Sixties eben nicht auf die anspruchslose Massenproduktion von Sozialsiedlungen – wohlgemerkt in beiden damaligen Teilstaaten Deutschlands – reduzieren lässt. Im Gegenteil: Noch heute überraschen manche der inzwischen vierzig Jahre alten Häuser durch ihre Radikalität. Das gilt für die expressive Betonskulptur der Bremer Stadthalle von Roland Rainer ebenso wie für die Betonkuben der Universität Regensburg. Insgesamt bietet Langes Buch einen hervorragenden Einstieg in ein Thema, das in der Öffentlichkeit bisher vernachlässigt wurde.

Planen und Bauen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR von 1960 bis 1975. Zu beziehen über das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz, Graurheindorfer Straße 198, 53117 Bonn.

Jürgen Tietz

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