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Kultur: Nicht ohne meine Oma

Die Tour de France als Zeichentrickfilm: „Das große Rennen von Belleville“ von Sylvain Chomet

Oma ist unerbittlich. Sie bläst in ihre Trillerpfeife, ohne Pause, ohne Gnade. Der Junge auf dem Fahrrad tritt in die Pedale, so schnell wie es seine aufgequollenen Beine noch zulassen. Die Bergstrecke vor ihm wird steiler, der Regen heftiger. Dem Takt seiner Großmutter kann der Kleine – „Champion“ steht auf seinem Trikot – kaum noch folgen. Trainingsalltag eines angehenden Radprofis. Tristesse eines Kindheitstraums. Abends wird Champion auf dem Wohnzimmertisch liegen und mit seinem Keuchen das Ticken der Standuhr übertönen. Und Oma kommt mit dem Staubsauger und pustet ihm die Beinmuskeln durch.

So hart kann Sport sein. Und so leicht ein Film darüber. „Das große Rennen von Belleville“ handelt nicht bloß vom Gewinnen und Verlieren. Es ist eine Geschichte über Gefühle: die Geschichte vom Erwachsenwerden eines Jungen, der seine Einsamkeit durch beständiges Treten verlieren will. Es geht um Liebe – die Mutterliebe einer Großmutter, die Abend für Abend die Radreifen ihres Enkels pflegt. Es geht um Hass – den kindlichen Hass kleiner Familien auf das große Geld, das den Sport aufpumpt bis zur Unkenntlichkeit. Und, wie immer beim Sport, geht es um Unterhaltung. Liebevoll hat der französische Zeichentrickfilmer Sylvain Chomet die Figuren in dieses Gemälde hineingemalt – so einfallsreich, dass auch dem Zuschauer wenig Puste zum Durchatmen bleibt.

In Frankreich war „Das große Rennen von Belleville“ ein Publikumserfolg, ebenso auf dem Filmfestival in Cannes. Das ist selten bei einem Comicfilm aus Europa – und verdankt sich den Bildern, die die Tour de France in den verrücktesten Farben karikieren, und den Figuren, die sich die Berge des Ruhms hinaufschuften und dennoch bescheiden bleiben. Dabei nimmt die rasante Story mindestens so viele überraschende Wendungen wie das weltweit wichtigste Radrennen selber.

Auf einer einsamen Gebirgsetappe wird Champion von zwei dunklen Gestalten in Schwarz entführt, am Hafen verfrachten sie den Jungen auf ein riesiges Schiff. Von nun an gibt es nur eine Rettung: Oma und Hund Bruno schippern mit dem Tretboot über die Meere, um Champion aus den Fängen der Fremden zu befreien. Schließlich landen alle in der chaotischen Großstadt Belleville. Ein Casino, eine wilde, wenn auch etwas lange Verfolgungsjagd und die mitreißende Musik einer gealterten Damen-Starcombo, die sich von Fröschen ernährt, steigern die 80-Minuten-Animation zum Spektakel inklusive der Mafia mit Zigarren, Pistolen und ihrem falschen Spiel mit den Talenten des Sports.

Zuweilen gönnt sich die Handlung eine Pause und ergötzt sich an den Macken des Hundes oder dem Großstadtpublikum von Belleville. Lebhaft wird es immer dann, wenn der Film den fahlen Glanz des sportlichen Ruhms erhellt: Erst vor wenigen Wochen wurde der italienische Radprofi Marco Pantani tot in einem Hotelzimmer aufgefunden. Er hatte an schweren Depressionen gelitten, seinen Körper mit Medikamenten und Drogen manipuliert. Die Gefahr für die Stars, sich mit jedem Etappensieg von ihren Kindheitsträumen zu entfernen, wird im „Großen Rennen von Belleville“ nicht verschwiegen. Genau das macht den Zeichentrickfilm verblüffend authentisch.

Auch Champion könnte ein ähnliches Ende nehmen – wenn Oma nicht wäre. Sogar in der Frauencombo spielt die Alte mit, um ein bisschen Geld aufzutreiben und ein paar Verbündete gegen die Mafia zu gewinnen. Mit Kühlschrank und Staubsauger machen die Damen Musik, während das noble Publikum belustigt an der Zigarre zieht. Nein, Oma kennt keine Schmerzgrenze, wenn es darum geht, ihr Enkelkind zu beschützen. So hart kann Liebe sein. Und so leicht.

Filmkunst 66, Kino in der Kulturbrauerei, Rollberg, OV im Cinema Paris

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