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Szene aus „Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek in der Regie von Nicolas Stemann am Thalia Theater Hamburg.

© Angerer, Krafft

Nicolas Stemann eröffnet Theatertreffen: „Habt ihr einen Schaden?“

Asyl zwischen Aischylos und Jelinek: Regisseur Nicolas Stemann eröffnet das Berliner Theatertreffen 2015 mit seiner Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“ und stellt Europas Umgang mit Flüchtlingen in Frage.

Die Flüchtlinge stehen im Fokus. Schon beim Einlass werden sie auf der Bühne von einem umhereilenden Kamerateam interviewt. Welche Bilder wir uns von anderen machen, das ist eines der zentralen Themen in dieser Inszenierung von Nicolas Stemann. Der Regisseur hat sich den Text „Die Schutzbefohlenen“ der österreichischen Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek vorgenommen, der um Europas Umgang mit Flüchtlingen kreist. Die Uraufführung fand 2014 im Rahmen von Matthias Lilienthals „Theater der Welt“-Festival in Mannheim statt, im Herbst des gleichen Jahres hatte die Inszenierung Premiere am Hamburger Thalia Theater. Jeweils unter Beteiligung von Flüchtlingen aus der Stadt. Stemann, Jahrgang 1968, gilt als der Jelinek-Spezialist - gerade weil er das Ringen mit ihren Textkonvoluten stets mitreflektiert. Mit den Jelinek-Inszenierungen „Das Werk“ und „Die Kontrakte des Kaufmanns“ war der Regisseur 2004 und 2009 zum Theatertreffen eingeladen. Jetzt eröffnen „Die Schutzbefohlenen“ einen Festivaljahrgang, der in den Augen von Theatertreffen-Leiterin Yvonne Büdenhölzer für die „Repolitisierung des Theaters“ steht.

Herr Stemann, sind Sie jemand, der auf Demonstrationen geht?
Als Kind und Jugendlicher war ich auf so vielen Demonstrationen, dass ich eine zeitlang eine Aversion dagegen hatte. In letzter Zeit war ich aber hin und wieder mal demonstrieren, zum Beispiel gegen TTIP oder auf der „My right is your right“-Demonstration. Zum Thema: Was passiert mit der Gerhart-Hauptmann-Schule, wie steht es um die Flüchtlingspolitik in Europa? Das Bündnis „My right is your right“ ist ja ein Zusammenschluss verschiedener Kulturinstitutionen in Berlin mit Flüchtlingsgruppen. Es ist wichtig, dass die Flüchtlinge breite Unterstützung erfahren.

Angesichts der Katastrophen, die sich an den EU-Außengrenzen ereignen, stellt sich mit Dringlichkeit die Frage: Was können wir tun?
Eine schwammige Solidarität zu zeigen, das reicht natürlich nicht. Was an den Außengrenzen der EU passiert, ist ein Symptom dafür, dass grundsätzlich etwas schiefläuft. Man landet da schnell bei sehr fundamentalen Fragen. Was treibt die Menschen eigentlich zur Flucht? Das ist komplex, hat ursächlich aber auch mit einer westlichen Politik und dem dazugehörigen Wirtschaftssystem zu tun.

Elfriede Jelinek verschränkt in Ihrem Text „Die Schutzbefohlenen“ das Massensterben vor Lampedusa, die Besetzung der Wiener Votivkirche durch Flüchtlinge 2012 und die antike Tragödie „Die Schutzflehenden“ von Aischylos. Geht das zusammen?
Als Findung ist das erst mal toll. Wobei die griechische Tragödie damit endet, dass die Schutzflehenden aufgenommen werden. Verschiedene Prinzipien werden abgewogen, der Schutz des Eigenen gegen die Verpflichtung, anderen zu helfen. Und das verortet Jelinek in einer Situation europäischer Flüchtlingspolitik, wo im Moment zugunsten eines Prinzips entschieden wird, das Profitmaximierung weit vor humanitäre Werte stellt. Man dachte, man würde damit durchkommen, dass man einfach die Zäune hochzieht. Jetzt wird deutlich, dass die Toten an den Außengrenzen sich auf Dauer nicht ausblenden lassen. Die Politik eiert rum im Bemühen, noch halbwegs human rüberzukommen. Ist sie aber nicht, dieses System ist zutiefst inhuman, im Umgang mit Flüchtlingen wird das deutlich.

Jelinek lässt ihre „Schutzbefohlenen“ als Anklagechor auftreten. Was schon den Zwiespalt aufmacht: Wer redet hier eigentlich im Namen von wem?
Ich wollte auf gar keinen Fall diejenigen, von denen das Stück handelt, erneut ausblenden. Sichtbar werden, selber die Stimme erheben – das sind ja explizite Ziele der Flüchtlingsproteste. Andererseits spricht dieser Flüchtlingschor in einer hoch artifiziellen Sprache, wie immer bei Jelinek. Für deren Umsetzung braucht man Experten, sprich: Schauspieler, die mit der deutschen Sprache umgehen können. Mir war schnell klar, dass dieses Dilemma ein Schlüssel sein wird, um zu forschen: wie kann man überhaupt dieses Thema im Theater verhandeln?

Zynisch gesprochen hat es auf deutschen Bühnen gerade Hochkonjunktur, echte Flüchtlinge auftreten zulassen.
Da muss man gucken, wer das aus welchen Gründen macht. Wenn es nur darum geht, dem Theater mehr Authentizität oder Leben einzuhauchen, dann finde ich das auch höchst fragwürdig. Mir ist das oft zu undialektisch, wenn „echte Menschen“ auf einer Theaterbühne auftreten – die stehen da ja auch nicht als sie selbst, sondern spielen eine Rolle. Natürlich führt das zu einer Reihe von Fragen: Wie schafft man es, dass die Flüchtlinge auf der Bühne nicht vorgeführt oder bevormundet werden, dass sie mehr sind als ein Bild? Wichtig ist, sich der Fallen bewusst zu sein, von denen man dabei umstellt ist. Ich habe ich mich schrittweise rangetastet. Und dieses Rantasten ist der Verlauf der Inszenierung.

Begonnen mit einem rein weißen Männerensemble.
Heterosexuell sind sie auch noch. Das rekurriert natürlich auf die Debatte um Blackfacing und strukturellen Rassismus – aber auch auf die Realität der deutschen Stadttheater: Warum gibt es dort fast nur weiße Schauspieler? Dieses Problem wollte ich einblenden. Und nicht einfach so tun, als gäbe es das nicht, indem ich mir ein anderes Ensemble zusammensuche.

Im nächsten Schritt gesellen sich afrodeutsche Schauspieler dazu.
Natürlich haben diese großartigen Schauspieler nicht mehr mit den Flüchtlingen gemein als Sie oder ich. Aber genau damit spielen wir, mit all diesen Vorurteilen, Bildern, Zuschreibungen, die immer wieder ad absurdum geführt werden. Um dann zu dem Punkt zu gelangen, dass die „echten“ Flüchtlinge auftreten. Aber die spielen ja auch nur eine Rolle. Auf der Bühne, aber auch in unserer Gesellschaft.

Stemann: "Wir sind nicht Teil der Lösung, wir sind Teil des Problems."

Der Regisseur Nicoals Stemann vor dem Haus der Berliner Festspiele.
"Wir sind nicht Teil der Lösung, wir sind Teil des Problems." Der Regisseur Nicoals Stemann vor dem Haus der Berliner Festspiele.

© Doris Spiekermann-Klaas

Welche Rolle ist das?
Wir als Gesellschaft neigen dazu, von ihnen als gesichtsloser Masse zu sprechen: „Die Flüchtlinge“. Was außer Acht lässt, wie verschieden ihre nationalen, kulturellen und ihre Bildungshintergründe sind. Das andere ist die rechtliche Situation. Die lässt den Menschen, die hierherkommen, keine andere Wahl, als die Rolle des Flüchtlings zu spielen: Asylverfahren zu durchlaufen, sich in den Zustand der Duldung zu begeben, was heißt, letztlich rechtlos und jederzeit von Abschiebung bedroht zu sein. Ich kenne Leute, die seit Jahren in diesem Zustand leben – die sind von dieser aufgezwungenen Rolle völlig zerstört.

Ihre Inszenierung gipfelt in dem Satz: „Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen.“ Damit haben Sie das zentrale Problem benannt. Auch gebannt?
In dem Sinne gebannt, dass man es zeigt. Aus diesem Problem ist keiner draußen, egal, wie er sich mit dem Thema beschäftigt. Wir sind nicht Teil der Lösung, wir sind Teil des Problems. Insofern ist der Satz eine Warnung, sich vorschnell einzurichten in der falschen Betroffenheit oder dem vermeintlich richtigen Bewusstsein.

Werden die Flüchtlinge als Darsteller eigentlich bezahlt?
Ja, aber das hat auch an allen Orten, wo wir gespielt haben, zu Konflikten geführt. Weil es Menschen sind mit ungeklärtem rechtlichen Status. Und die kann man nicht einfach nach den Regeln der Institutionen bezahlen. Man muss also Wege finden, die schnell in rechtliche Grauzonen führen. Und vor denen haben die Institutionen eine gewisse Angst. Das war ein langes Ringen.

Hatten Sie nie Berührungsängste im Umgang mit ihnen?
Doch. Man kennt die Menschen anfangs nicht, hat Angst, ihnen zu nahezutreten, bestimmte Traumata zu triggern. Ganz einfach: Wenn man von ihnen verlangt, ein Kostüm anzuziehen, das ihr Gesicht verhüllt und sie mehrere Minuten in so einer Situation verharren sollen, wo es heiß ist, wo man schwitzt – da muss man schon sehr präzise erklären, was der Vorgang ist. Sonst fragen die zu Recht: Habt ihr einen Schaden? Aber sie verstehen genau, worum es geht. Ich war jedes Mal sehr angetan von diesen Begegnungen.

Sie haben die Arbeit mit Flüchtlingen in Amsterdam fortgeführt. Das Projekt mit dem Titel „Labyrinth“ ist zu den Autorentheatertagen am DT eingeladen – aber die Protagonisten dürfen nicht reisen.
Ich habe in Holland mit einer politischen Gruppe gearbeitet, die sich „We are here“ nennt, tolle Leute, die alle in einem rechtlichen Niemandsland gefangen sind: Ihre Asylanträge wurden abgelehnt, obwohl sie aus Bürgerkriegsgebieten wie Somalia oder Eritrea stammen – was eigentlich als Asylgrund reicht. Die haben schreckliche Dinge erlebt, können das aber nicht nachweisen, weil man dort in einer bestimmten Generation einfach keine Papiere hat, weder Geburtsurkunde noch Ähnliches. Abgeschoben werden dürfen sie aber auch nicht, weil sie aus eben diesen Ländern kommen und man dahin nicht abschieben darf. Ein bürokratischer Irrsinn. Die sitzen praktisch auf der Straße, teilweise seit Jahren, und dürfen gar nichts, auch nicht reisen. Wir haben uns entschieden, das Stück trotzdem zu zeigen, aber in dem Zustand, in dem das europäische Flüchtlingsrecht es zulässt. Ohne die Protagonisten.

Interview: Patrick Wildermann.

Aufführungen von „Die Schutzbefohlenen“ im Haus der Berliner Festspiele am 1. Mai, 19 Uhr und am 2. Mai, 19.30 Uhr

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