zum Hauptinhalt
Grenzgängerin. Die Dramatikerin Nicoleta Esinencu lebte lange im Westen, kehrt aber immer wieder in ihre Heimat zurück.

© HAU

Nicoleta Esinencu beim Theaterfestival im HAU: Das Leben ist eine Provokation

Bekannt geworden ist die moldawische Dramatikerin Nicoleta Esinencu mit ihrem wütenden Monolog „FUCK YOU, Eu.ro.Pa!“. Jetzt kommt die 35-jährige Autorin mit neuen Stücken zum Festival „Good Guys Only Win in Movies“ nach Berlin.

Von Sandra Luzina

„Lenin lebt! Lenin wird leben! stand über dem Eingang meiner Schule, einer angesehenen Schule in Chisinau. Das war die Losung, die wir jeden Morgen lesen mussten. Die Tafel hängt noch heute dort. Aber irgendwann wurde die alte Losung durch eine neue ersetzt – Willkommen in Europa!“ So beginnt die moldawische Dramatikerin Nicoleta Esinencu ihren Essay „Chisinau – eine Stadt der Kopfschmerzen“, der von den Zeiten des Umbruchs handelt. Ihre auf Rumänisch geschriebenen Stücke handeln vom Spannungsfeld zwischen Ost und West, vom Clash derIdeologien und Ökonomien. Sie erzählen, wie Geschichte ständig umgeschrieben wird, aber auch davon, wie Hass, Homophobie und Gewalt sich in der postsowjetischen Gesellschaft ausbreiten.

Der wütende Monolog „FUCK YOU, Eu.ro.Pa!“, der in ihrer Heimat eine politische Kontroverse auslöste, machte Esinencu international bekannt. Sie rechnet darin nicht nur mit ihrem Vaterland ab. „Eine erste Annäherung an den Westen. Ein Blick aus der Ferne nach Osten“, so charakterisiert sie heute das Stück, dass sie 2005 bei einem Stipendienaufenthalt auf Schloss Solitude in Stuttgart geschrieben hat. Hat sich ihr Blick auf Europa seitdem verändert? „Ich war naiv“, sagt sie heute, „alles ist viel trauriger und viel ernster, als ich damals dachte.“

Nicoleta Esinencu ist doppelt präsent in Berlin

Die 35-jährige Autorin und Regisseurin ist in dieser Woche doppelt präsent in Berlin. Beim Festival „Good Guys Only Win in Movies“ im HAU, das bis 9. November künstlerische Positionen aus Bukarest und Chisinau vorstellt, sind gleich drei Produktionen des von ihr mitgegründeten Teatru Spalatorie zu sehen. Und das Festival „Voicing Resistance“ im Gorki-Studio wird am 7. November mit zwei Stücken von Esinencu eröffnet : Neben „FUCK YOU, Eu.ro.Pa!“ ist auch „Odessa Transfer“ zu sehen.

Im Westen grenzt die seit 1991 unabhängige Republik Moldau an Rumänien. Im Norden, Osten und Süden wird sie von der Ukraine umschlossen. Ein kleines Land am Rande Europas, die Arbeitskräfte wandern ab, vor allem die Jungen und Gutausgebildeten. Esinencu ist immer wieder zurückgekehrt nach Chisinau. Sie wehrt sich dagegen, zum „enfant terrible aus Moldau“ abgestempelt zu werden: „Ich schreibe, weil ich über die Gesellschaft sprechen möchte, in der ich lebe, egal wo ich geboren wurde. Die Probleme, die ich benenne, haben keine Grenzen.“

Ihre Stücke zeichnen sich durch drastische Sprache und einen aggressiven Ton aus. An ihrem Sound nehmen viele in Moldawien Anstoß. „Es ist die Sprache, die uns umgibt“, sagt sie. „Ich finde nicht, dass ich provoziere. Die Realität, in der ich lebe, provoziert mich.“ Was sie in ihrer Heimat hält, ist in erster Linie das Teatru Spalatorie, das kollektiv geleitet wird. „Die Arbeitsbedingungen sind schwieriger als anderswo. Die Produktionen werden aus dem Ausland finanziert, manche finanzieren wir auch selber.“ Ohne Förderer wie das Goethe-Institut und das HAU könnte das kleine Haus nicht überleben.

Europa und seine neuen Grenzen

Einen Eindruck von der Arbeit des „Teatru Spalatorie“ kann man nun am HAU erhalten. Etwa bei Esinencus neuem Stück „American Dream“, das von Arbeitsmigration handelt. Eine moldawische Studentin träumt von Amerika, die Geschichte nimmt eine groteske Wendung: Am Ende muss sie illegal in Moskau schuften. Die Wirklichkeit ist kaum weniger krass: „Moldawien funktioniert nur noch über die Menschen, die im Ausland arbeiten und regelmäßig Geld nach Hause schicken. Die Summe, die jährlich nach Hause geschickt wird, hält die Wirtschaft des Landes aufrecht.“

Um das Tabuthema Homosexualität geht es im Dokutheaterstück „Dear Moldova, can we kiss just a little bit?“. Sechs Menschen aus Chisinau berichten über ihre Diskriminierungserfahrungen. „Das Publikum reagiert unterschiedlich“, erklärt Esinencu. Nicht alle Leute in Moldawien sind bereit, über das Thema zu sprechen. Dass die Zuschauer nach der Vorstellung noch eine Weile bleiben und gemeinsam mit den Schauspielern essen, um direkt in Kontakt mit ihnen zu kommen, finde ich sehr wichtig.“

Die Politik bringt die Dramatikerin so auf den Punkt: „Europäische Integration um jeden Preis. Die Reformen reduzieren sich auf den Austausch der Uniformen. Trotzdem tut die EU so, als sehe sie die Korruption nicht, und finanziert weiter moldauische Oligarchen.“ Es ist kein Zufall, dass Esinencu zum 25. Jahrestag des Mauerfalls nach Berlin eingeladen wurde. Fürchtet sie sich vor überschäumenden Emotionen? „Es provoziert mich, darüber nachzudenken, was ich selber in diesen 25 Jahren gesehen habe. Das Einzige, was ich sagen kann, ist: Good Guys Only Win in Movies!“ Nicoleta Esinencu – darauf ist Verlass – wird weiter über Europa und seine neuen Grenzen schreiben.

Festival „Good Guys Only Win in Movies“ bis 9. November im HAU. Esinencus „American Dream“ wieder heute, 6.11. um 19 Uhr. „Dear Moldova, can we kiss just a little bit?“ von Esinencu und Jessica Glause am 8.11. (21 Uhr) und 9.11. (17 Uhr). Außerdem Stücke von Alexandra Pirici, Ion Bors, Paul Duca, Farid Fairuz und Madalina Dan zu sehen. Infos zum Festival: www.hebbel-am-ufer.de. Infos zum Festival „Voicing Resistance“ im Gorki-Studio: www.gorki.de.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false