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Kultur: Nie mehr lieben

Trolle und Teufelsaustreiber: Die Theatersaison in Bochum ist eröffnet

Wer ist dieser Peer Gynt? Zunächst einmal ein Energiebündel. Zusammen mit Mutter Ase stürmt er die leere, schneebedeckte Bühne, die er, heftig gestikulierend, laut sprechend, mit wilden Lügengeschichten füllt: Oliver Stokowski ist ein Mann in mittleren Jahren, leicht berlinernd, ein Durchschnittstyp im T-Shirt, sehr heutig. Wie schon bei Gorkis „Sommergästen“, dem Überraschungserfolg der letzten Spielzeit, setzt Regisseur Jürgen Gosch an den Anfang die Behauptung, dass das Stück heute spielt. Das 19. Jahrhundert ist gestrichen. Und mit ihm der ganze vierte Akt, der am deutlichsten der Entstehungszeit des „Peer Gynt“ verhaftet ist: Peer als Kolonisator und großer Geschäftsmann in Nordafrika, im Bordell und im Tollhaus.

In Goschs Bochumer Inszenierung macht Peer keine Bilderbuch-Karriere. Zu sehen ist vielmehr der Versuch, die Physiognomie einer Zeit zu spiegeln, die auch die unsere sein könnte. Und Peer ist deren mustergültiger Phänotyp: Ein Spontaneitätsvirtuose, immer der nächstbesten Eingebung auf der Spur, ohne sich selbst zu kennen. Immer sucht er irgendetwas, eine Braut, einen Erfolg, ein Abenteuer, und kreist dabei doch um ein leeres Selbst. Man muss ihn mögen, aber man weiß eigentlich nicht, wer er ist. Vermutlich jemand wie du und ich.

Dieser „Peer Gynt“ ist ein Abend der Schauspieler. Zwölf Darsteller, die die Bühne aus dem Parkett heraus betreten und mit kaum einem anderen Requisit als zwei Bündeln Holz (Ausstattung: Johannes Schütz) eine ganze Welt entstehen lassen, eine kalte, unheimliche Welt, in der ein grausiger Humor vorherrscht. Die seltsamen Trolle zum Beispiel, die Peer mit ihrer Königstochter verkuppeln wollen: Bizarre Alptraumfiguren, surreal, Wesen mit Schweinsmasken, die ungeniert für eine schweinische Moral werben.

Wenn die Schauspieler als lebende Skulpturen mit den Hölzern Hütten bilden oder zwitschernd und fiepend Bäume darstellen, wenn drei Männer in Frauenkleider schlüpfen und die winzige Sennerinnenszene zu einer wunderbaren Travestie ausspinnen, in der mit Schalk von der Not männerloser Frauen die Rede ist, wenn die Schiffbruchszene nur mit Hilfe eines Wassertrogs realistische Konturen annimmt – dann zeigt sich, wie die bloße Fantasie, die pure Imagination sich einen scheinbar fernen Stoff spielerisch aneignet.

Gosch hat den Text neu übersetzt, erlaubt den Schauspielern aber, ihre Dialoge improvisatorisch zu „übermalen“. Dadurch entsteht viel Komik. Ihre besten Augenblicke indes hat die Aufführung in der Ruhe. Wenn nach allen Turbulenzen plötzlich Stille einkehrt, die Stille der Erschöpfung, des Innehaltens und der Verzweiflung. Wenn Peer Gynt eine Zwiebel in der Hand zerquetscht und begreift, dass ihm sein exzessives Leben durch die Finger zerronnen ist. Wenn die Schauspieler in einer Reihe am Bühnenrand sitzen und ein elegisches Lied singen. Oder wenn drei Schweinsmasken den armen Peer aus unheimlich leeren Augen anglotzen, teilnahmslos, uninteressiert am Schicksal eines Einzelnen, wie die Welt nun einmal ist.

Die Welt, mit zwei Ausnahmen: Mutter Ase, aber die ist längst tot. Und die Geliebte Solveig, hier ein Immigrantenkind, zurückhaltend und intensiv gespielt von Cathérine Seifert – sie, die er kaum je beachtet hat, ist auch am Ende für Peer da, wenn der Knopfgießer kommt (mit fulminanter Energie: Marcus Kiepe) und ihn einschmilzt. Und Solveig singt: So viel Sentiment hat die Inszenierung sich immerhin erlaubt.

Von der definitiven Austreibung jeglicher Sentimentalität handelt dagegen das jüngste Psychodrama von Sibylle Berg, unter dem sarkastischen Titel „Das wird schon“ auf der Brettl-Bühne des Bochumer Schauspiels, dem „Theater unter Tage“, und von Niklaus Helbling zur Uraufführung gebracht. Wieder einmal geht es um sehr bündige Thesen: Die Liebe bringt nichts, die Männer wollen nur „blöden sexuellen Mist“, die Frau muss ihre romantischen Sehnsüchte trockenlegen. Zwei Frauen zwischen 30 und Ende 40 besuchen einen Silvester-Workshop unter dem Motto „Nie mehr lieben!“ Ein schmieriger Therapeut namens Knut hilft den beiden mit sanften Einflüsterungen und kessen Moderationen auf den Sprung: In Zukunft nur noch Single sein, aber mit Freude – denn es gibt nichts zu verlieren.

Als „Universalmann“ und Teufelsaustreiber schlüpft der Therapeut auch gleich in die Rollen sämtlicher Mannsfiguren, die den Klientinnen je begegnet sind: Erfolgloser Künstler, Pilot oder Kapitän auf erotischen Warteschleifen, Drogendealer auf dem Sadomasotrip – und was es dergleichen zeitnaher Erscheinungen mehr gibt. Der Schauspieler Felix Vörtler gibt diesen läppischen Metamorphosenreigen mit kabarettistischem Brio. Wenn aber überhaupt etwas mit dem biestigen und humorresistenten Abend versöhnen kann, ist es der Charme von Johanna Gastdorf und Angelika Richter: Sie haben sehr viel Besseres verdient als ein paar Stand-up-Komiker, die man schon vor ihrer Uraufführung besser hätte einschmelzen sollen.

Martin Krumbholz

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