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Der Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano

© Patrick Kovarik/dpa

Nobelpreisträger Patrick Modiano wird 70: Abends auf der Place de l’Etoile

Im Meer der verlorenen Zeit: Der Nobelpreisträger und Erinnerungskünstler Patrick Modiano wird 70 – und gleichzeitig erscheint sein neuer Roman auf Deutsch.

Gegen Ende seines autobiografischen Buches „Ein Stammbaum“ überlegt Patrick Modiano, ob nicht all die Leute, „denen ich in den sechziger Jahren begegnet bin und die ich später nie wiedergesehen habe, in einer Art Parallelwelt weiterleben, gefeit gegen die Zeit, mit ihren Gesichtern von damals.“ Diese Parallelwelt, von der Modiano spricht, existiert natürlich: in seinen vielen kleinen, sich oft ähnelnden, aber stets schön verträumten Romanen, in denen er häufig auf die sechziger Jahre zurückkommt. So auch in seinem neuesten, der auf Deutsch pünktlich zu Modianos 70. Geburtstag veröffentlicht wird und den sperrigen Titel „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ trägt.

Darin bemüht sich der Erzähler, der Schriftsteller Jean Daragane, Licht in das Dunkel einiger Ereignisse seiner Kindheit zu bringen, speziell Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre. Doch viele der Personen von damals, das erinnert er nun, hat er schon einmal wiedergetroffen, fünfzehn Jahre später, also in den Sechzigern, vor allem eine gewisse Annie Astrand. Bei ihr hatte er als Kind in einem kleinen Pariser Vorort gelebt, sie zog mit ihm nach Montmartre und wollte ihn nach Italien mitnehmen, woraus aber nichts wurde.

Es zeichnet die Roman- und Parallelwelt von Patrick Modiano aus, dass sie die ewige Wiederkehr nicht nur einer bestimmten Zeit beschwört, sondern auch die immer selben Motive, Ereignisse, Orte und Namen aufgreift. Jeder neue Modiano-Roman verweist auf frühere Romane Modianos – und auf die Kindheit und Jugend des französischen Literaturnobelpreisträgers von 2014. Allein der Vorname des Helden von „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ ist ein wohlbekannter. So heißen auch die Erzähler aus seinen Romanen „Gräser der Nacht“ und „Der Horizont“, beides Schriftsteller, und nicht zuletzt Modiano selbst mit zweitem Vornamen. Und Daragane hieß die Frau, wegen der der junge Modiano 1960 einst aus einem Collège ausriss, eine Freundin seiner Mutter: Kiki Daragane.

Die Gefahr, sich mit Querweisen zu verzetteln

Als „empfänglich für Menschen und Dinge, die im Begriff zu verschwinden sind“ beschreibt sich einer der vielen Modiano-Jeans, weshalb noch andere Namen in „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ wieder auftauchen: Colette Laurent, bekannt aus „Ein so junger Hund“, von der es hier nun heißt, sie sei 1951 ermordet worden. Roger Vincent, eine prägende Figur aus dem Kindheitsroman „Straferlass“, in dem es auch einen Jean D. gibt. Und vor allem besagte Annie, die in „Straferlass“ den jungen, 10-jährigen Helden und dessen Bruder großzieht und mit ihnen ab und an nach Montmartre fährt.

Ja, und wie ist das mit Gilles Ottolini und Chantal Grippay, dem seltsamen Pärchen, das Jean Daragane wegen eines gewissen Guy Torstel auf die Spur seiner Kindheit bringt? Ob die ebenfalls schon irgendwo bei Modiano aufgetaucht sind? Es ist inzwischen, nach über dreißig Romanen des Pariser Schriftstellers, eine Gefahr bei der Lektüre seiner Bücher, sich beim Enträtseln und Querverweisziehen zu verzetteln und die eigentliche Geschichte aus dem Blick zu verlieren.

Aber die Linie ist wiederum allzu sichtbar, die sich von „Straferlass“, einem der schönsten Modiano-Romane überhaupt, über „Ein Stammbaum“ hin zu diesem neuen Roman zieht, der nun abermals auf eine kurze, prägende Zeit in Modianos Leben verweist. Er und sein Bruder wohnen 1952 bei einer Freundin ihrer Mutter in einem Vorort von Paris, in Jouy-en-Josas, Rue du Docteur-Kurzenne Nr. 38, und gehen dort auch zur Schule. Von einem „Kommen und Gehen seltsamer Frauen“ in diesem Haus ist in „Ein Stammbaum“ die Rede, was in „Straferlass“ ausführlich erzählt und in „Damit du dich im Viertel nicht verlierst“ modifiziert wird.

Fluchtpunkte im Meer der verlorenen Zeit

Wie gewohnt schiebt Patrick Modiano die Zeiten gekonnt ineinander über. Oft so gekonnt, dass man gerade gegen Ende des Romans nicht weiß, in welcher Zeit sich das Ganze zuträgt, wann sich Jean Daragane mit den Bekannten aus seiner Kindheit eigentlich trifft, mit Annie Astrand, Perrin de Lara, Doktor Voostrat. Fast unmerklich markiert Modiano es trotzdem immer wieder, da gilt es zu rechnen: „Er wollte damals, bevor er sich an die Arbeit machte, nach fünfzehn Jahren ein letztes Mal nach Saint-Leu-la-Foret“. Oder: „Seit damals hatte sich bestimmt viel verändert, doch er merkte es kaum. Vierzig Jahre später, im 21. Jahrhundert, fuhr er eines Nachmittags zufällig im Taxi durch das Viertel.“

Wichtiger jedoch ist die Frage, ob es überhaupt möglich ist, die Vergangenheit präzise zu erinnern? Verbirgt diese sich nicht stets wie hinter einer Milchglasscheibe? Kann man nicht sowieso nur die Schatten der „Wirklichkeit des Geschehenen“ zeigen, wie das Motto dieses Romans lautet, nach einem Zitat von Stendhal? Das Ungenaue, das Flüchtige von Erinnerungen, darum geht es in dem gesamten Werk des Literaturnobelpreisträgers, um das vergebliche Bemühen, diese Erinnerungen länger als nur für Augenblicke zu fassen. Wie sagt es Jean Daragane, als er versucht, sich die Büroräume seines Vaters zu vergegenwärtigen oder das Theater, in dem seine Mutter Auftritte hatte? „Aber diese Erinnerungen entzogen sich ihm nach und nach, wie Seifenblasen oder Fetzen eins Traums, die beim Erwachen verfliegen.“ Weshalb die vielen Straßen- und Ortsnamen, die von Personen oder von Café und Autowerkstätten (in „Straferlass“ gibt es beispielsweise gleich zwei Seiten nur mit Namen, von der Garage des Réservoirs bis zur Garage aux Docks de la Jonquière) eine so wichtige Rolle spielen: als Anker, als Fluchtpunkte im Meer der verlorenen Zeit.

Die zweite Geburt des Patrick Modiano

Bei all dem versteht es sich, dass Modiano in seinen Büchern die eigene Biografie stets variiert. Geboren wurde er 1945 als Kind eines Juden und einer Flämin, die sich im Paris der Okkupationszeit kennengelernt hatten und beide nicht übermäßig interessiert an ihm und seinem im Alter von 10 Jahren verstorbenen Bruder Rudy waren. Viele der Erzähler haben genau solche Mütter und Väter. Sie sind Schauspielerinnen wie Modianos Mutter, zwielichtige Geschäftsleute wie dessen Vater. Und wie Modiano besuchen seine Helden zahlreiche Internate und schreiben irgendwann in den sechziger Jahren ihren ersten Roman. Als „zweite Geburt“ hat Patrick Modiano einmal die Veröffentlichung seines Debüts "Place de l’Etoile" 1968 bezeichnet. „An diesem Abend hatte ich mich zum ersten Mal leicht gefühlt in meinem Leben“, schreibt er in „Ein Stammbaum“.

Doch die Beschwernisse seines frühen Lebens: die abwesenden Eltern, die Mutter, die oft auf Theatertourneen war, der Vater, mit dem er in dessen letzten Lebensjahren überhaupt keinen Kontakt mehr hatte, die unruhige Kindheit und Jugend, die vielen Menschen und Orte dieser Zeit, die ersten Lieben – all das ist der Stoff, aus dem Modianos Literatur besteht. Und mit dem er schon 1978 den Prix Goncourt für seinen im Übrigen dem Vater gewidmeten Roman „Die Gasse der dunklen Läden“ verliehen bekam. Als Modiano ein zweites Mal geboren wurde, begann er das Leben eines Schriftstellers, eines Erinnerungskünstlers, der sich für die eigene Gegenwart literarisch überhaupt nicht mehr interessiert. „Seit damals hatte sich viel verändert, doch er merkte es kaum.“, heißt es in „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ über Jean Daragane. Seine düstere, unruhige Vergangenheit, sie ist Modianos kostbarster Schatz.

Patrick Modiano: Damit du dich im Viertel nicht verirrst. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2015. 160 Seiten, 18, 90 €

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