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Kultur: Noctambulismus!

Unterm Sternenhimmel: Heute eröffnet das 55. Filmfestival Locarno

Silvio Berlusconi und die Folgen: Als die politischen Querelen um die Filmfestspiele Venedig im Frühjahr ihren Höhepunkt erreichten und Ex-Berlinale-Chef Moritz de Hadeln kurzfristig die Leitung übernahm, spekulierte mancher, ob Locarno von all dem nicht profitiere. Wegen des Zeitvorteils beim Feilschen um die filmische Herbstkollektion. Und aus der Überlegung heraus, dass gerade Autorenfilmer vielleicht doch nicht so gerne nach Berlusconi-Land reisen.

Aber der Festivalzirkus gehorcht anderen Regeln. Obwohl Locarno (1.-11.8.) in seinem 55. Jahr in den Rang eines A-Festivals aufstieg, verspricht ein italienischer Goldener Löwe immer noch mehr Renommee als ein schweizerischer Leopard. Bereits das Festival von Cannes nach Le Pens Vorwahlsieg hat es gezeigt: Der Boykott-Aufruf jüdischer Organisationen verhallte folgenlos. Und auch im Programm von Venedig (ab 29.8.) finden sich neue Filme von Stephen Frears oder Agnieszka Holland: Selbst kritischere Regisseure identifizieren ein Festival also keineswegs mit der politischen Lage vor Ort.

So bleibt das Filmfest Locarno, das am Donnerstag mit der Oscar-Wilde-Verfilmung „The Importance of Being Earnest“ eröffnet wird, auf jenem Kurs, den die neue Festivalchefin Irene Bignardi seit vergangenem Jahr eingeschlagen hat. Einmal mehr lauten die drei Akzente: junge Regisseure, asiatisches Kino und politische Debatte. Die Hälfte der 22 Wettbewerbsbeiträge sind erste oder zweite Filme; die Retrospektive „Indian Summer“ ist dem indischen Autorenfilm gewidmet, und zum Abschluss laden die Veranstalter zum Afghanistan-Tag.

Dabei versammelt das Mammutprogramm von fast 400 Filmen aufallend viele Geschichten von Entfremdung und Entwurzelung. Jeder sein eigener Held: Gus van Sant schickt in „Gerry“ zwei Freunde buchstäblich in die Wüste, der Franzose Alain Cavalier beobachtet „René“, der partout 30 Kilo abnehmen möchte. Zu den politischen Stoffen im Wettbewerb zählen der Balkankrieg sowie die Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems in Indien. Die traditionelle Balance zwischen Independent-Kino und Mainstream bleibt gewahrt: zwischen Dogma 95 und Open-Air-Vergnügen auf der Piazza mit Blockbustern à la „The Bourne Identity“ (mit Matt Damon und Franka Potente) oder „Signs“ mit Mel Gibson.

Anders als Cannes hat der Wettbewerb am Lago Maggiore deutsche Beiträge nie verschmäht. Diesmal sind – wie in Venedig – zwei Produktionen dabei. Iain Dilthey zeigt „Das Verlangen“, das wortkarge Drama einer Pastorengattin in der Provinz, Michael Hoffmann („Der Strand von Trouville“) kommt mit „Sophiiiie!“, einer jungen, schwangeren Frau, die eine Nacht lang durch Hamburg irrt. In den Nebenreihen läuft außerdem Thomas Schadts „Berlin – Sinfonie einer Großstadt“, und Hanns Zischler verrät in seinem Bilder-Essay „Kafka geht ins Kino“, was auch unsereins an hellichten Sommertagen vor die Leinwand treibt: Noctambulismus – die Sehnsucht nach der Dunkelheit. chp

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