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Nora Bossong, geboren 1982 in Bremen, ist eine der wichtigsten Schriftstellerinnen der jungen Generation. Sie lebt in Berlin.

© Peter-Andreas Hassiepen/Hanser Berlin

Nora Bossong über das Rotlicht-Milieu: "Eine größere Verachtung ist für mich kaum vorstellbar"

Nora Bossong hat ein Buch über das Rotlicht-Milieu geschrieben. Sie fand Sex als Sanitärartikel, aber keine Menschlichkeit. Ein Gespräch über das Geschäft mit der Lust.

Frau Bossong, Sie haben sich schon mit elf, zwölf Jahren für die Sex-Shops in Ihrer Heimatstadt Bremen interessiert. Woher kam die Faszination?

Die Faszination kennen viele, gerade in dieser Phase von Nicht-mehr-Kind- und Noch-nicht-erwachsen-Sein. Diese Orte haben eine mysteriöse Aufladung, weil man weiß, diese Orte sind nicht für einen bestimmt. Das erste Mal heimlich „Bravo“ lesen und das erste Mal heimlich an einem Sex-Laden vorbei gehen und versuchen reinzugucken, liegen nicht weit auseinander. Bei mir kommt hinzu, dass ich in Bremen und Hamburg aufgewachsen bin. Die Reeperbahn war für mich immer präsent. Mein Vater hat als Hamburger Drogenbeauftragter gearbeitet.

Wann haben Sie sich zum ersten Mal in so einen Shop reingetraut?

Mit 15, 16 Jahren habe ich mich mit Freundinnen in den Beate-Uhse-Laden geschlichen, in einer Mischung aus wirklicher Neugier und schamhaften Gekicher. Die Tatsache, dass wir dort nicht erlaubt waren, hat die Szenerie von uns weggerückt. Das hat uns ein bisschen die Scham genommen.

Jetzt haben Sie ein Jahr lang eine Reise durch Bordelle und Swingerclubs unternommen. Was haben Sie gesucht?

Zum einen wollte ich meine Neugier befriedigen, immer noch. Wissen, was hinter den verschlossenen Türen passiert. Aber selbst, wenn ich einen Sex-Shop betreten habe, musste ich mich vorher noch mal umgucken, ob mich irgendjemand beobachtet. Die Schwellenangst war auch deshalb groß, weil man als Frau immer noch nicht selbstverständlich zu solchen Rotlicht-Orten hingeht. Das Gefühl, das ich als 16-Jährige hatte, hat sich manchmal wiederholt: Ich gehöre da nicht hin, nicht mehr wegen meines Alters, sondern diesmal wegen des Geschlechts. Eine Frau klingelt nicht bei einem Bordell. Zum anderen und vor allem wollte ich wissen, warum das so ist, und was passiert, wenn Lust zur Ware wird, der Kaufprozess sich in die Intimität einschleicht. Kauft man mehr das Phantasma oder das, was man sich ersehnt?

Haben Sie die Antwort gefunden?

Man kauft allenfalls Lust. Ich unterscheide im Buch zwischen Lust und Begehren. Begehren ist eindeutig größer, hat mit Projektionen zu tun und damit, etwas im Anderen zu sehen und auch den Anderen sehen zu wollen. Genau das findet man im Bordell nicht. Je tiefer die Preise sind, desto hochgetakteter ist der Ablauf. Das macht Nacktheit auf eine andere Art noch viel nackter. Gefunden habe ich auch eine gewisse Hilflosigkeit bei den Männern, die dort hingehen und eigentlich auch etwas anderes suchen. Sie haben keine Antwort darauf gefunden, was sie tun könnten, wenn ihnen Zärtlichkeit, Nähe, Sex fehlt. Die banale Empfehlung wäre, erst einmal mit der eigenen Frau oder Freundin zu reden. Darauf kommen sie aber nicht oder wollen dem einfach ausweichen. Der widerstandslosere Weg ist, in den Puff zu gehen. So habe ich es von den Freiern gehört, mit denen ich während der Recherche sprach. Inzwischen habe ich auch Post von anderen Freiern bekommen. Da ist der Ton von Entwürdigung und extremer Respektlosigkeit geprägt. Es fehlt die Reflektion darüber, was es heißt, wenn ich mir mit 40 Euro nicht bloß eine sexuelle Handlung, sondern einen Körper zu kaufen glaube.

Sie schreiben, dass Sie die Gesichter der Frauen sofort wieder vergessen hätten, sie sahen „verwischt“ aus. Weil sie keine Individuen mehr sind?

Frauen, die ich auf der Sex-Messe, in einer Table-Dance-Bar oder im Wohnungs-Bordell habe arbeiten sehen, folgten einer vorgegeben Inszenierung. Die Aufmerksamkeit war so sehr auf die Geschlechtsmerkmale und pornografischen Gesten ausgerichtet, dass es schwerfiel, in ihnen noch Persönlichkeiten, wirkliche Menschen zu sehen.

Auf der Sex-Messe, wo „Sex wie ein Sanitärartikel verkauft wird“, hat Sie die „vollendete Eindeutigkeit“ abgestoßen. Was tötet die Erotik: die Öffentlichkeit, das Licht, der Kommerz?

Das ganze Paket. Aber auch die Tatsache, dass die Inszenierungen so aussahen, als ob die Fotoshop-Bearbeitung schon vorab stattgefunden hätte. Da war nichts Menschliches mehr. Klar sehe ich menschliche Körper, aber die sind so überzeichnet, dass es mir schwerfällt, das Natürliche, das ja im Sex vorkommen müsste, zu erkennen. In Barcelona hat jetzt das erste Bordell aufgemacht, in dem Männer sich Puppen als Frauenersatz mieten können. Man könnte sich freuen, dass demnächst die Frauen auf dem Straßenstrich nicht mehr so mies behandelt werden. Umgekehrt ist es die Weiterdrehung eines immer stärker entkörperlichten Sex-Betriebs. Es geht immer weniger darum, den Anderen zu sehen und mit dem Anderen etwas zu erleben. Ich hole mir meine Bilder, der Andere ist bloß noch Gegenstand meiner Phantasien und meiner sexuellen Bearbeitung.

Braucht Erotik einen Schleier?

Ich glaube schon. Das, was auf der Erotik-Messe und in vielen Pornos gezeigt wird, ist Nacktheit in totaler Überdirektheit. Phantasien sind da nicht mehr möglich, denn Phantasie setzt Leerstellen voraus. Pornografie ist wie ein Text, in dem alles ausgeführt ist, der alles eindeutig benennt, keine Metaphern aussendet.

Sie waren bei der Recherche stets in männlicher Begleitung unterwegs. Aus Angst?

Auch. Aber auch zur Tarnung. In ein Sex-Kino hineinzugehen ohne männliche Begleitung ist möglich. Ob man dann wieder rauskommt, ist eine andere Frage. In einem Bordell wird man als Frau meist einfach abgewiesen. Auf die Sex-Messe hätte ich auch alleine gehen können, aber dann wurde es zum Teil der Recherche, die Orte mit jeweils einem anderen Begleiter zu besuchen und deren männlichen Blick kennenzulernen.

Für Frauen ist im Rotlicht-Milieu lediglich die Rolle vorgegeben, „käuflich zu sein“, schreiben Sie. Ist der Strich der letzte Ort, in dem die Emanzipation nicht ankam?

Das glaube ich nicht. Dort ist es nur am allerdeutlichsten. Unter Zeitungsverlegern oder Wirtschaftsvorständen ist der Frauenanteil auch sehr gering. Nicht ganz so wie bei den Zuhältern und Bordell-Betreiben, aber dennoch kann man von einer gleichen Verteilung der Machtpositionen nicht sprechen. Natürlich ist im Rotlicht die Art und Weise, wie man mit Frauen umgeht, brutaler. Da trauen sich Männer, den Preis für Intimität, für Geschlechtsverkehr noch herunterzuhandeln und das eventuell sogar als Lustgewinn zu empfinden. Weil sie dabei ihre Macht noch stärker ausspielen konnten. Eine größere Verachtung ist kaum denkbar.

Haben Sie Gewalt erlebt?

Nicht direkt. Was ich als Gewalt empfunden habe, war eine Gangbang-Szene, die ich in einem Sex-Kino mitangesehen habe. Ich fühlte mich bedroht, weil ich nicht wusste, was wäre, wenn ich noch einen Schritt weiter nach vorne ginge. Würden die Männer meine Grenzen respektieren oder denken, ich sei involviert? Die Art und Weise, wie ein Mann nach dem anderen an die Frau rangegangen ist, war für mich eine Vergewaltigungs-Szenerie. Dass diese Art von Brutalität Freude macht, war zumindest für mich hochgradig abstoßend.

Hat die Recherche Ihr Sexleben verändert?

Während der Recherche war es schwierig, die Bilder auch im privaten Leben auszuklammern. Etwa die Beliebigkeit, die Sex im Rotlicht hat. Ich bin an Orte gekommen, wo Menschen Sex miteinander hatten, die sich vielleicht drei Minuten kannten. Der Swinger-Club, das Sex-Kino waren hochgradig desillusionierend. Das komplette Entkoppeln von Begegnung und Intimität konnte ich nicht wegrücken. Und auch die Tatsache, dass ich ein Jahr lang sehr viele nackte Menschen gesehen habe. Nicht nur nackt wie am FKK-Strand, sondern sexualisiert nackt. Wenn man die eigene Intimität schützen will, muss man eine Distanz dazu schaffen. Ich will ja nicht in meinem Kopf einen eigenen Venus-Pornowettbewerb laufen haben.

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