zum Hauptinhalt
Die Schriftstellerin Nora Bossong.

© picture alliance / dpa

Nora Bossong und ihr Gramsci-Roman: Männerfantasie

Verliebter Idiot, kluger Revolutionär: Nora Bossongs Antonio-Gramsci-Roman „36,9°“.

Kleiner Körper, großer Geist: Das gilt für Antonio Gramsci, der 1891 geboren und nur 1,50 Meter groß wurde und zeitlebens einen Buckel trug, weil sein Kindermädchen den Dreijährigen einmal fallen ließ. Und der als Mitbegründer der kommunistischen Partei Italiens in den 1920er Jahren zum furchtlosen Gegenspieler Mussolinis wurde. Auch als ihn der Duce 1926 verhaftete, um den Revolutionär für den Rest seines Lebens im Gefängnis verschwinden zu lassen, ließ Gramsci sich nicht brechen.

Im Gegenteil: Er füllte, während sein Körper mehr und mehr verfiel, Heft um Heft mit Gedanken und Einsichten. Gramscis 33 Gefängnishefte, nach seinem Tod 1937 von seiner Schwägerin Tanja Schucht aus der Zelle geschmuggelt, sind nicht nur ein posthumer Triumph über den Diktator. Mit dem knapp 3000 Seiten umfassenden Arsenal kritischen Denkens avancierte der marxistische Philosoph in der Nachkriegszeit zu einem wichtigen Stichwortgeber der westeuropäischen Linken. Heute gilt Gramsci mit seinen Reflexionen über die Rolle des Intellektuellen oder die „kulturelle Hegemonie“ von Ideen in einer „Zivilgesellschaft“ als Ahnherr der Cultural Studies.

Bossong erzählt, dass Gramscis Leben nicht nur von Denken und gesellschaftlichem Engagement bestimmt war, sondern auch von Leidenschaft und großen Emotionen

Dass Gramscis Leben nicht nur von Denken und gesellschaftlichem Engagement bestimmt war, sondern auch von Leidenschaft und großen Emotionen, erzählt nun der neue Roman von Nora Bossong. Das Potenzial des Kommunisten als Romanfigur ist groß: Erst mit 31 Jahren sollte ihn die Liebe ereilen, 1922, während eines Sanatoriumsaufenthaltes in Moskau, als er zuerst Eugenia Schucht kennenlernte. Die Lenin-Vertraute machte Gramsci mit ihrer jüngeren Schwester Julia bekannt – und war auf die von ihr gestiftete Liebe der beiden zeitlebens eifersüchtig.

Von da an war Gramscis Leben zerrissen: zwischen den Schucht-Schwestern, zu denen sich später in Rom und in den Gefängnisjahren noch Tanja Schucht gesellte. Vor allem aber zwischen Pflicht und Neigung, wie man mit Kant sagen könnte. Also zwischen seiner selbst gewählten Aufgabe und der Liebe seines Lebens. „Ein Mann kann nicht alles sein im Leben, ein glücklicher Mensch und ein getriebener. Ein verliebter Idiot und ein kluger Revolutionär“, notiert Bossongs Gramsci einmal.

Eindrucksvoll, empathisch und mit genauer Kenntnis des biografischen Materials erzählt die 33-jährige Autorin, wie sich der kleine, große Kommunist diesem tragischen Konflikt stellt, sogar eine Familie gründet, aber auch, wie sich der Vereinsamte in den Gefängnisjahren von seiner Frau mehr und mehr entfremdet: Nach der Verhaftung sollte Gramsci seine Frau, die mit den Söhnen rechtzeitig zurück nach Moskau geflohen war, nie mehr wiedersehen. Bediente sich Bossong in ihrem letzten Roman, „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“, einer kalkuliert kühlen Sprache, so erzählt sie nun das Leben dieser kommunistischen Ikone in einer flirrend-sinnlichen, mitunter sogar fiebrig scheinenden Prosa.

Bossongs zweite Figur ist ein kleines Licht, beruflich wie menschlich. Auch er heißt Anton

Bossongs vierter Roman könnte also ein großer Wurf sein – gäbe es da nicht noch eine zweite, alternierend erzählte Handlungsebene in der Gegenwart und mit ihr einen zweiten Protagonisten. Auch er ist klein gewachsen und heißt mit Vornamen Anton. Nur ist dieser Anton Stöver auch sonst ein ausgesprochen kleines Licht: beruflich wie menschlich. Als inhaltliche Brücke in die Jetzt-Zeit dienen Bossong Gramscis Gefängnishefte: Stöver, ein Gramsci-Experte, soll im Rom von heute nach einem bislang unbekannten, womöglich von Moskau unterdrückten Gefängnisheft suchen.

Der Mittvierziger ist zunächst ein typischer Vertreter des akademischen Prekariats; an der Uni gescheitert, schlägt er sich als Freier für eine Lokalzeitung durch. Was zur Aufrechterhaltung seines großbürgerlichen Lebensstils fehlt, steuert spöttisch seine Mutter bei, eine Grande Dame der Bremer Linken der 70er Jahre und, natürlich, Gramsci-Verehrerin. Gescheitert ist auch Stövers Ehe: Bossong, von der mit „Schnelle Nummer“ zuletzt eine eindrucksvolle Reportage über die Welt der Stundenhotels erschien, zeichnet, besser gesagt: überzeichnet den Wissenschaftler als notorischen Fremdgänger, der sich durch immer neue Eroberungen seine Männlichkeit beweisen muss – und der auch in Rom bald schon statt nach dem verschwundenen Heft nach der nächsten gestaltgewordenen Männerfantasie jagt.

Bossongs erzählerische Intentionen sind offensichtlich: Mit Stöver als Spiegelfigur will die Autorin den Gegensatz zwischen dem existenziellen Ernst früherer Epochen und den von Narzissmus und Egozentrik geprägten Lebensentwürfen unserer Tage konstruieren. Nur funktioniert das nicht. Dass die in Ich-Form erzählten Stöver-Kapitel schon sprachlich abfallen, ließe sich noch als Rollenprosa erklären. Aber warum die seltsam unbeholfenen, papierenen Dialoge, vor allem mit seiner Frau Hedda? Etwa: „Das ist keine gemeinsame Entscheidung, Anton, das ist reden im Pluralis Majestatis“.

Problematischer ist, dass Stöver als Figur unglaubwürdig ist. Der eingebildete Fatzke gerät Bossong nicht etwa zu einer tragikomischen Kontrastfigur, sondern zur Karikatur, und zwar so sehr, dass man ihm seine vielen Affären am Ende nicht mehr abnimmt. Und schon gar nicht, dass er, wie die Romankonstruktion ja nahelegt, der einfühlsame Verfasser der Gramsci-Kapitel sein könnte. Und der behauptete Epochengegensatz? Überzeugt ebenso wenig, schließlich könnte man einen Gramsci-artigen Lebenslauf problemlos auch im Heute ansiedeln – man denke nur an einen Whistleblower wie Edward Snowden.

Nora Bossong: 36,9°. Roman. Hanser Verlag, München 2015.317 S., 19,90 €

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false