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Weltenwanderin. Ricarda Ciontos wurde 1968 in Siebenbürgen geboren.

© Björn Kietzmann

Nordwind-Festival in Berlin: Okay ist nie genug

Vom mutigen Scout zur gefragten Macherin: Ricarda Ciontos ist die Seele des Nordwind-Festivals im Hebbel am Ufer.

Ricarda Ciontos, die Chefin des Nordwind-Festivals, kommt partout nicht los vom Telefon in ihrem Büro im Kunstraum Kreuzberg. Erst will ein Veranstalter sie als Koproduzentin der nächsten Robert-Wilson-Inszenierung gewinnen. Dann hat das Büro des Kulturstaatssekretärs André Schmitz noch eine Frage zur Schirmherrschaft, die er für die diesjährige Festivalausgabe übernommen hat.

Das Festival, das bereits in fünfter Auflage nordeuropäische Kunst – Performance, Musik, Malerei – nach Deutschland holt, ist derart erfolgreich, dass es 2013 erstmals nicht nur in Berlin, sondern in zwei weiteren Städten stattfindet. Nach der Dresdner Eröffnung macht es ab Mittwoch Station im Berliner HAU und zieht dann weiter nach Hamburg.

Beim Gespräch zwei Etagen unter ihrem Büro, im Restaurant „Drei Schwestern“, erinnert sich Ricarda Ciontos bestens gelaunt an die „Fassungslosigkeit“, die ihr entgegenschlug, als sie 2005 beschloss, Berlin um ein nordisches Theaterfestival zu bereichern. „Wer kuratorisch auf sich hielt“, lacht sie, „flog damals nach Afrika oder veranstaltete Asien-Pazifik-Wochen.“ Das nordische Theater hingegen erfreute sich eines Renommees wie der finnische Fußball : herzlich unbedeutend!

Ciontos – von Haus aus Schauspielerin – hatte allerdings etwas entdeckt, was weder der Pazifik noch Deutschland zu bieten hatten, als sie 2005 in einer Off-Theaterproduktion nach Ingmar Bergman mit skandinavischen Kollegen auf der Bühne stand: „Die gingen an diese Beziehungsthematik viel direkter und schonungsfreier heran“, sagt die 45-Jährige. Während man hierzulande Ehedramen ja eher ironisch breche, hätten sich die Skandinavier mit einer Ernsthaftigkeit in die Materie gestürzt, die weder altmodisch noch kitschig daherkam: „Die waren wirklich bereit, alles in die Waagschale zu werfen – auch sich selbst.“

Davon wollte Ciontos mehr. Sie flog, auf der Suche nach Bergman-Wiedergängern, nach Stockholm, präsentierte, zurück in Berlin, ihre Festivalidee in vier nordischen Botschaften – und stieß auf freundliches Unverständnis: Zunächst dachten die Konsulatsleute, Sprachprobleme seien daran schuld, dass es ihnen partout nicht gelang, die hinter Ciontos stehende Institution ausfindig zu machen. „Dass da schlichtweg keine war, konnten die sich einfach nicht vorstellen“, sagt die Festivalmacherin.

Am Ende bekam sie von jeder Botschaft – „wahrscheinlich aus Mitleid“ – 500 Euro. Und weil der Berliner Senat, Sparte Kulturaustausch, 8000 drauflegte, konnte 2006 mit einem Gesamtetat von 10 000 Euro tatsächlich das erste Nordwind-Festival über die Probebühne des Theaters Thikwa gehen. Fassungsvermögen: 40 Zuschauer. Ciontos war glücklich: Vier Produktionen konnte sie einladen. Nur eines war finanziell beim besten Willen nicht drin: Übertitelungstechnik. „Wir haben den Zuschauern unseren Eröffnungsabend tatsächlich gnadenlos auf Finnisch und Samisch um die Ohren gehauen.“ Die „wutentbrannten Gesichter“ im Parkett wecken heute noch ihr Mitgefühl.

Dass „Nordwind“ inzwischen zu einer renommierten Plattform mit 80 Veranstaltungen und einem Gesamtetat von 570 000 Euro gewachsen ist, die über Skandinavien hinaus längst das Baltikum einschließt, ist neben Ciontos’ enormem Beharrungsvermögen auch ihrem robusten Magen zu verdanken. Als puristische Gesundheitsfanatikerin hätte sie die Jahre jedenfalls nicht durchgestanden, in denen sie – das Konto bis an die Dispogrenze ausgeschöpft – scoutmäßig skandinavische Festivals bereiste. Sobald sich die internationalen Kuratoren-Kollegen zum gemeinsamen Abendessen in angesagten Restaurants verabredeten, verschwand Ciontos unter Vorwänden ins nächstbeste „7-Eleven“. „Ich kann fundierte Empfehlungen geben“, sagt sie, „ich habe alle Produkte durch.“ Ihr heißester Tipp: „Mustamakkara“, eine tiefschwarze glitschige Blutwurst, die auf jedem gut sortierten finnischen Frühstücksbuffet anzutreffen ist und notfalls auch 72 Stunden verdächtig unbeschadet in der Handtasche übersteht. Tatsächlich hatte Ciontos, während die Kollegen mit dem Taxi von Bühne zu Bühne fuhren, noch nicht mal Geld für U-Bahn oder Bus.

Und das, obwohl die Festivalmacherin, die 1968 als Tochter eines rumänischen Juristen und einer deutschen technischen Zeichnerin in Siebenbürgen geboren wurde, 1978 mit ihrer Familie nach Deutschland kam und nach dem Abitur in Saarbrücken Schauspiel studierte, schon bei ihrer zweiten Nordwind-Ausgabe ziemliche Erfolge feierte! Nicht nur das dänisch-österreichische Künstlerduo Signa, dessen begehbare Parallelwelten Ciontos 2007 in Berlin präsentierte, eroberte die deutsche Theaterszene im Sturm.

Wie entdeckt man eigentlich in Ländern, die man kaum kennt, immer wieder Perlen abseits des Mainstreams? „Als ich vor fünf Jahren in Norwegen unterwegs war“, erklärt Ciontos, „drückte mir die Botschaft eine lange Liste in die Hand.“ Die vermeintlichen Geheimtipps reichten vom norwegischen Peymann bis zum Osloer Ostermeier. Ciontos ließ nicht locker, spürte ein Tanz- und Theaterzentrum auf und ließ sich von dessen Leiterin die Namen sämtlicher freier Gruppen aufschreiben. „Als ich durch war, habe ich ihr gesagt: Das ist alles irgendwie okay.“ Nur: „Für ,okay‘“, ruft Ciontos, „gehe ich nicht 14 Stunden am Tag arbeiten!“

Irgendwann hatte die Theaterzentrumsleiterin ein Einsehen. Es gäbe da noch jemanden, druckste sie herum, der mal was in einer Kellerbühne inszeniert und später an der Oper gearbeitet habe, dort aber gleich wieder rausgeflogen sei und momentan bei seiner Mutter auf dem Sofa nächtige. Ciontos ließ sich seine Handynummer geben, verabredete sich mit ihm und bekam eine selbst bemalte DVD in die Hand gedrückt, die sie – zurück in Berlin – sofort einlegte. Keine drei Minuten später wusste sie: „Damit eröffnen wir!“

Der Künstler hieß Vegard Vinge – und der Rest ist bekannt: Nach „Nordwind“ sofort an die Volksbühne engagiert, hob der Totaltheaterberserker mit seinem IbsenMarathon „John Gabriel Borkman“ die Branche aus den Angeln wie lange keiner, wurde zum Theatertreffen eingeladen und ist im Übrigen nicht die einzige Nordwind-Entdeckung, die inzwischen Avancen von New York bis Avignon bekommt. Ciontos’ diesjährige „Entdeckung“, der Maler Kalervo Palsa aus Lappland, starb bereits 1987, mit 40, an einer Lungenentzündung, weil er sein Atelier nicht heizen konnte. Einige seiner berühmtesten Bilder malte Palsa – „in Finnland ein absoluter Geheimtipp und in manchen Kreisen ein Star“ – mit Zahnpasta: Ihm fehlte das Geld, Farben zu kaufen.

Nordwind-Festival, 27. 11. bis 8. 12., Programm unter: www.nordwind-festival.de

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