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Kultur: Notdach

Fotos von Fritz Eschen

„Eine persönliche Beziehung zum Erschauten herzustellen“, verlangte Fritz Eschen vom Fotografen, damit sie sich auf den Betrachter übertragen kann. Wer wie der 1900 in Berlin geborene, 1964 gestorbene Meisterfotograf viele Große der Literatur und Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg porträtierte, hat die selbst gestellte Aufgabe glänzend gelöst. Selten sah man Thomas Mann, Ricarda Huch, Erich Kästner, die Tänzerin Mary Wigman oder den Regierenden Ernst Reuter derart intensiv ins Bild gesetzt. Wie einem Maler scheint jeder und jede ihm Modell gesessen zu haben, obwohl die Begegnungen wohl nur kurz gewesen sind. Denn Eschen war, seitdem ihn seine „Mischehe“ vor der Deportation bewahrt hatte und er wieder arbeiten durfte, ein viel beschäftigter Mann. Im Auftrag des Telegraf und der Neuen Zeitung sowie von Zeitschriften war er in Berlin und in ganz Deutschland unterwegs.

Wer die Reihe der Porträts abschreitet, meint einem Who is who der deutschen Nachkriegskultur gegenüberzustehen. Doch vor allem oder zumindest ebenso verstand Essen sich selbst als Stadtfotograf. Er hat die Ruinen Berlins festgehalten, sie fungieren bei ihm als Hintergrund für wiedererstandene Kaufhäuser, Bahnhöfe und die Wohnpaläste in der Stalinallee. Dazwischen spielt sich das Leben ab. Kinder stürmen in einen Zirkus, eine gewaltige Zuschauermenge drängt 1950 ins Olympia-Stadion, am Bahnhof Zoo bietet ein Kriegsversehrter blühende Zweige an. Einmal, 1946, erblickt Eschen ein junges Paar auf einer Bank, und dahinter gebietet noch immer eine Inschrift im Mauerwerk: „Für Juden verboten“. Die Szene muss ihm durch Mark und Bein gegangen sein.

Gern bezog er eine erhöhte Position, und so entstanden seine wohl schönsten Aufnahmen: der Lampenputzer an einer Gaslaterne, den er 1932 aus einem oberen Stockwerk ins Auge fasste, die Angler an der Spree, die Geometrie von Bahnhofstreppen und Gleisanlagen. Keine Verbitterung, keine Trauer bestimmen diese Kompositionen, dafür ein waches Interesse am Leben und der Wille zur Form.

Der Nachlass ruhte Jahrzehnte in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden, die seinerzeit als Einzige zur Übernahme bereit war. Nun ermöglicht die sorgfältige Auswahl aus diesem Bestand dem Berliner Publikum die Wiederbegegnung mit dem zum Glück nicht vergessenen großen Fotografen (Preise: 400-1000 Euro). Wer mehr Arbeiten sehen will, sei auf den kürzlich im Lehmstedt Verlag Leipzig erschienenen Bildband „Berlin unterm Notdach. Fotografien 1945-1961“ verwiesen. Hans-Jörg Rother

Galerie argus fotokunst, Marienstr. 26; bis 1.10., Di - Sa 14 - 18 Uhr.

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