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Kultur: Notenschlüsselkinder

Pilotptojekt „Jeki“: Die Bundeskulturstiftung investiert 10 Millionen Euro in musische Bildung

Natürlich will Tristan Rockmusiker werden. Oben auf der Bühne die Telecaster traktieren, während unten die Meute ausrastet. Die richtige Frisur hat der Neunjährige schon. Doch weil die Musikschule nun einmal nur klassische Gitarre anbietet, sitzt er jetzt in Hausschuhen im dritten Stock der Bochumer Drusenberg- Grundschule und sucht die D-Saite. Zusammen mit fünf anderen Jungs und Christian Füllgraff. Es ist die siebte Stunde, ganz leicht ist es für den Gitarrenlehrer nicht, die Konzentration aufrechtzuerhalten. Darum hat Füllgraff Gummibärchen dabei, die er den I-Dötzchen aufs Instrument klebt, nachdem sie die erste Strophe des Nonsensliedchens gemeistert haben: „Fing mir eine Mücke, größer als ein Pferd wohl“. Gary ist der schnellste in der Truppe, spielt die Melodie schon stolz vor, während die andern noch auf dem Griffbrett nach den Tönen fahnden. Singen mag er nicht so sehr: „Spielen ist viel cooler.“ Leadsänger der Band kann ja sein Kumpel Tristan werden.

Hendrik, Niklas, Joscha, Gary und Tristan sind „Jeki“-Kids. Sie gehören zu den Bochumer Schülern, die jetzt schon an einem musikalischen Förderprogramm teilnehmen, von dem bald alle 212 000 Grundschulkinder im Ruhrgebiet profitieren sollen. „Jedem Kind ein Instrument“ heißt die Initiative, intern „Jeki“ genannt. Angefangen hat alles in der örtlichen Waldorfschule, erklärt Projekt-Koordinatorin Gisela Eibeck. Die Bochumer Musikschule hat die Idee 2003 aufgegriffen, die „Zukunftsstiftung Bildung“ stieg für die Finanzierung mit ein. Inzwischen machen 32 der insgesamt 61 städtischen Grundschulen mit. Schon die Erstklässler werden spielerisch an die Musik herangeführt, ab der zweiten Klasse dürfen sie sich dann ein Instrument als kostenlose Dauerleihgabe aussuchen und erhalten für einen geringen Beitrag Unterricht in kleinen Gruppen. Das Attraktive dabei ist, dass die Instrumentallehrer direkt in die Schulen kommen. Das entlastet auch die Eltern, weil sie ihren Nachwuchs nicht noch einmal nachmittags zur Musikschule bringen müssen.

Auch in Berlin gibt es diesen Service der Musikschulen – hier in Bochum aber, im Herzen des Potts, wo die Friseurgeschäfte noch „Salon Moni“ heißen und man sich in der Trinkhalle 20 verschiedene Sorten Gummitiere einzeln aus großen Plastikbottichen aussuchen kann, wirken die engagierten Schulhausmusiker wie wunderliche Jeki-Ritter.

Die Leiterin der Bundeskulturstiftung, Hortensia Völckers, war jedenfalls so begeistert von dem integrierten Instrumentalunterricht, dass sie vorschlug, die Initiative mit zehn Millionen Euro zu unterstützen. Der Titel „Europäische Kulturhauptstadt“, den das Ruhrgebiet 2010 tragen wird, macht’s möglich. Wochenlang sind Völckers und ihre Mitarbeiterin Antonia Lahmé durch die Region gereist: „Was die Bundeskulturstiftung im EU- Jahr 2010 unterstützt, soll vor allem von Nachhaltigkeit geprägt sein“, erklärt Lahmé. „Für Events finden sich ja leichter Sponsoren aus der Wirtschaft.“ Das Bochumer Modell erschien ihnen ebenso „simpel wie radikal“: „Sobald Kinder mit einem Geigenkasten unterwegs sind, zeigen sie ein anderes Verhalten auf dem Schulhof und in den Fluren, eine neues Verantwortungsbewusstsein – weil sie merken, dass man ihnen etwas zutraut.“

2010 soll dann ein gigantisches Kinderorchester zur Feier der europäischen Kulturhauptstadt aufspielen. Wie lang der Weg zur Konzertreife allerdings ist, kann man in der „gemischten Streicherklasse“ von Frau Dues an der Bochumer Drusenbergschule erleben. Wenn die vier Geigen und die beiden Celli loslegen, braucht der Gasthörer starke Nerven. So, wie es bei dem Stück mit dem Titel „Dornröschen“ quietscht und schabt, wäre jede Prinzessin garantiert aufgewacht. „Das war schon ziemlich gut“, lobt die Lehrerin, korrigiert bei Johanna die Bogenhaltung, geht mit Alex noch einmal zwei heikle Takte durch. Die Kids aber haben wirklich Spaß, auch jetzt, nach sechs Schulstunden.

Wie sie ausgerechnet aufs Cello gekommen sei? „Wir durften verschiedene Instrumente ausprobieren, und das Cello hat sich für mich gleich gut angefühlt“, erzählt Larissa. „Mir war die Geige zu klein“, ruft ihr Pultnachbar Steffen, der gerade so groß ist wie sein Instrument.

Musische Bildung ist derzeit das Lieblingsthema der Politiker. Darum hängt sich die konservative Landesregierung von Nordrhein-Westfalen auch nur zu gerne an das „Jeki“-Projekt der Bundeskulturstiftung. Zehn Millionen kommen bis 2010 aus Düsseldorf, nach dem Kulturhauptstadtjahr will das Land NRW dann die Instrumentalinitiative alleine weiterfinanzieren. Damit schließt zumindest Nordrhein-Westfalen auf das Niveau von Venezuela auf. Was hierzulande als Innovation gefeiert wird, ist in dem südamerikanischen Land seit 27 Jahren Realität. Von dem staatlich alimentierten Fördersystem mit kostenlosem Musikunterricht profitieren 240 000 venezolanische Kinder in 175 Jugendorchestern – bei einer Gesamtbevölkerung von rund 23 Millionen. Die größten Talente drängt es längst nach Europa: Der 26-jährige Gustavo Dudamel wird als neuer Dirigenten-Shootingstar gehypt und übernimmt im Herbst die Göteborger Symphoniker, Edicson Ruiz hat kurz nach seinem 20. Geburtstag einen Vertrag als Kontrabassist bei den Berliner Philharmonikern unterschrieben.

In Deutschland sind es derzeit vor allem die Kulturinstitutionen selber, die sich um ihr Publikum von morgen kümmern. Die aktuelle Elterngeneration scheint weitgehend für Klassik, Theater und Galerien verloren. Die Allianz der Zukunft heißt Opa und Enkel. Die Großeltern haben noch Abos und Dauerkarten fürs Museum, mit ihnen können sich die Kleinen verbünden, wenn ihr Interesse an der Hochkultur außerhalb des Elternhauses geweckt wurde.

Bei den 133 deutschen Sinfonieorchestern haben seit 2003 die Projekte im Bereich Musikpädagogik um sensationelle 75 Prozent zugenommen, wie die Deutsche Orchestervereinigung Ende Januar stolz verkündete. Neben 750 Schüler- und 928 Kinderkonzerten machen vor allem die Workshops und Instrumentenpräsentationen in den Schulen den Löwenanteil der Aktivitäten aus. Dabei sind es oft die Musiker selber, die die Initiative ergreifen.

In Berlin lud der Rat für die Künste in der vergangenen Woche zu einem „Tauffest“ ins Konzerthaus am Gendarmenmarkt: Je 15 Schulen und Kulturinstitutionen gingen bei dem Festakt Patenschaften ein – und Berlins Kultursstaatssekretär André Schmitz rief euphorisch in den Saal: „Kulturelle Bildung ist wichtiger als alle Probleme der Opernstiftung zusammen!“

Der „Rat für die Künste“, der sich gerne als „Parlament der Berliner Kultur“ bezeichnet, sieht sein Patenschaftsprojekt durchaus als Gegenpol zum extrem attraktiven, medienwirksamen Education-Programm der Berliner Philharmoniker. Setzt das Spitzenorchester nach angelsächsischem Vorbild darauf, den Kids erst einmal zu zeigen, wie viel Spaß es machen kann, selber kreativ zu sein, geht es dem „Rat für die Künste“ um Zusammenarbeit in ganz traditionell-bildungsbürgerlichem Sinn, um dauerhafte, mehrjährige Kooperationen, bei denen die Schüler die Arbeitsprozesse im Kulturbetrieb kennenlernen.

Nachhaltigkeit ist der Knackpunkt bei allen Initiativen der musischen Bildung, auch bei „Jeki“ im Ruhrgebiet. Das Programm erfasst nämlich nur die Grundschüler, und die wechseln in NRW schon nach vier Jahren auf die weiterführenden Schulen. Wie es gelingen kann, dass der Wechsel nicht zur Sollbruchstelle wird, dass die Kids dann auch weiterhin aus eigenem Antrieb dabeibleiben, weiß bislang noch keiner so genau. Nicht alle haben so viel Glück wie Joscha. Für den Neunjährigen aus der Bochumer Gitarrenklasse von Christian Füllgraff ist seine künftige musikalische Karriere jetzt schon klar. Er hat nämlich einen Vater, der Drummer in einer Band ist: „Wenn ich ihm Gitarre beibringe, hat Papa gesagt, dann bringt er mir Schlagzeug bei!“

Infos zu „Jeki“: www.jedemkind.de, www.kulturstiftung-bund.de, zur Patenschaftsinitiative des Rats für die Künste unter der Tel-Nr.: 030/203 09 22 88.

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