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NS-Gedenken: Das Denkmal sind wir

Der Reichsadler über dem Portal an der Bismarckstraße hält in seinen Klauen die Hausnummer – zur Verdeckung des Hakenkreuzes. Ab 1939 war der Bau Berlins größtes Finanzamt.

Der Reichsadler über dem Portal an der Bismarckstraße hält in seinen Klauen die Hausnummer – zur Verdeckung des Hakenkreuzes. Ab 1939 war der Bau Berlins größtes Finanzamt. Sollte man an diesem Charlottenburger Ort dokumentieren, dass hier Verfolgte ausgeraubt wurden? Wie viel Erinnerungsmarkierung braucht Berlin?

Forscher in Washington haben jetzt in einer Synopse europäischer Fakten die Terror-Topografie des „Dritten Reiches“ neu beziffert: 42 500 Zwangslager und Folterstätten. 3000 in der Hauptstadt. Doch wie viel Topografie braucht die Erinnerung – wie viel Statistik?

Unsere Republik erntet oft Lob für ihre Gedenkpraxis; gestritten wird über deren Umfang. Dem „Einwand, dass über die deutschen Konzentrationslager bereits viel zu viel gesprochen und geschrieben worden sei“, begegnete schon Eugen Kogon, als er 1945 sein Werk „Der SS-Staat“ veröffentlichte. Die Skrupel dieses Ex- Häftlings zeigen den Zwiespalt solcher Annäherung: Kogon schreckte erst vor einer Schilderung der „Furchtbarkeit des Bösen“ zurück, wollte seinen Text verbrennen, weil die Darstellung des KZ-Systems als Gebrauchsanweisung dienen könne. Zugleich hoffte er, durch seine Verbindung von Systematik und Individualberichten die „Flut an Erlebnisliteratur ein wenig hemmen zu können“.

Heute sterben die letzten Zeugen. Um dennoch den Thrill des Authentischen zu suggerieren, schaffen rekordlastige Zahlen Aufmerksamkeit. Tiefere Erkenntnis bringt das nicht. Fehlentwicklungen wie der Trend zum opferzentrierten Rückblick, der den Alltag der zuschauenden Bevölkerungsmehrheit eher ausblendet, werden auf dieser Ebene kaum pariert. Wo die Quantität der Gedenkgesten, Floskeln, Denkmäler sich steigert und ihre Qualität sinkt, entsteht Betroffenheitsroutine. Weniger wäre mehr: Ohne richtiges Vergessen, ohne Kriterien, was zur Kerninformation zählt, fehlt jedem irgendwann der Speicherplatz.

Wer sich mit deutscher Identität, Berlin, dem 20. Jahrhundert befasst, stößt auf den Begriff „Menschheitsverbrechen“, womit gemeint ist: Intelligenz, Technologie, Staatsstruktur und Ideale werden zur industriellen Vernichtung von Personen eingesetzt, das berührt die conditio humana. Darum gehört eine Kenntnis der Systematik hier zur Kerninformation. Beschränkung auf das Organigram des Terrors, ohne Interesse für Einzelbiografien, befördert jedoch die Täterperspektive: Opfer werden zu Nummernkolonnen. Gleichwohl garantiert der nötige Spagat zwischen Analyse und biografischer Empathie kein umfassendes Verstehen. Ein paar politische Lektionen lassen sich ableiten, es gibt aber nicht die Lehre aus dem Holocaust. Es gibt nur den Imperativ: dass davon erzählt werden muss. Seitdem das Selektionsprojekt, dessen Schaltzentrale Berlin war, zur Erfahrungs-DNA unserer Spezies gehört.

Lebende Denkmale einer Geschichte, die dann noch überliefert werden soll, wenn viele Markierungen nicht mehr wahrgenommen werden, müssen die Berliner selbst sein. Dafür gilt es, das eigene Quartier, die Verwandtschaft als Schauplatz zu entdecken! Was aus solchem Nachforschen entsteht, zeigt ab Sonntag der ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“. Nur reicht es nicht, diese existenzielle Recherche ans Fernsehen zu delegieren. Wer selbst aus der „oral history“ seiner Familie erfährt, was jene Epoche „mit mir“ zu tun hat, kann anders davon erzählen. Die Erzählung heißt: Wie wir wurden, was wir sind.

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