zum Hauptinhalt

Kultur: Nur das Ich und die Welt und ein Graben dazwischen

Man sieht dem purpur leuchtenden Bild nicht an, welchen Irrsinn es birgt. An Hunderten von Nägeln schlingen sich rote Fäden über die zehn Meter lange Wand und ergeben von der Decke bis zum Boden Buchstaben, Worte, Sätze, Sinn.

Man sieht dem purpur leuchtenden Bild nicht an, welchen Irrsinn es birgt. An Hunderten von Nägeln schlingen sich rote Fäden über die zehn Meter lange Wand und ergeben von der Decke bis zum Boden Buchstaben, Worte, Sätze, Sinn. Der Besucher kennt niemanden, der den Text ganz gelesen hätte. Die Mühen der Künstlerin, die Satzfolgen eng aneinander zu weben, findet weniger Leser als Gucker. Deshalb ließ Galerist Gerd Harry Lybke, der für die Trägheit des Publikums Verständnis hat, die Schrift leicht lesbar auf ein DIN-A-4 Blatt übertragen.

Nun hat man es mit zwei verschiedenen Texten zu tun. Da das Lesen und also der Anteil des Betrachters am Werk jeweils grundverschieden ist, ergeben sich je andere Bedeutungen und verleihen der Arbeit eine dynamische Ambivalenz. Das Blatt läßt sich überfliegen; das Lesen des Textes an der Wand fordert Nerven und Geduld. Bedeutungen haben mit Wirkungen zu tun.

Doch der schöne Schein der Farbe maskiert den geschilderten Wahnsinn. Die Gesichtsröte sieht aus wie Make-up: "(...)Ich bin mittelgroß, normal schlank und habe braunes Haar. (...)Ich habe Angst und hasse mich. (...)Ich halte niemand aus. Zuhause fühle ich mich wohl, manchmal sogar normal oder hübsch. Anderswo bin ich ohne Wert, ausgeliefert, häßlich. Niemand sagt mir das direkt ins Gesicht, aber ich spüre, was sie über mich denken. Wenn ich nur nicht irre werde. Dann holen sie einen und alle wissen es dann." Eine Frau redet von sich und den Anderen. Einzelne kennt sie nicht. Es existiert nur das Ich und die Welt und ein Graben dazwischen.

Je länger sie spricht, desto mehr wird der Leser auf ihre Seite gezogen. Identifikation stellt sich nicht ein, doch Sympathie wie für eine Freundin, der nicht zu helfen ist. Eine eigene Welt. Die Künstlerin Birgit Brenner, die sich diese Frau am Rande des Nervenzusammensbruchs erfand, erzählt von Intensitäten und Verinnerlichung, Stadtneurosen und Verwandlung. Ihr Medium ist die Zeit, ihre Strategie eine Form der Überwältigung einer Überwältigten, die ihre furchtbare Botschaft als Schmuggelware im unwiderstehlichen Farbton transportiert. Birgit Brenners wahnwitzige Wandarbeit ist die lettristische Alternative zum Bildsturz des Jungstars Jonathan Meese. "Wer allein ist", schrieb einmal der Dichter Gottfried Benn, "ist auch im Geheimnis, immer steht er in der Bilder Fülle." Darin liegt die Verbindung zwischen Meese und Brenner. Noch erscheint alles roh und unbehauen. Und es ist nicht sichtbar, daß die jungen Künstler die Riesen kennen, auf deren Schultern sie stehen.

Doch jede Generation löst die alten Probleme auf ihre Weise neu. Und da Brenner die Verlegenheit zum Antrieb macht, schaut sie der Antwort bereits ins Gesicht und flüstert "Überrasche mich". ph

Galerie Eigen + Art, Auguststraße 26, bis 10. Juli; Dienstag bis Freitag 14 - 19 Uhr, Sonnabend 11 - 17 Uhr.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false