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Kultur: Ob Herman oder Habermas

Ein

von Gregor Dotzauer

Hohe Ansprüche in deprimierenden Zeiten sind nie verkehrt. Das Berliner Monatsmagazin „Cicero“ erklärt seine Notwendigkeit mit der „Suche nach neuen Orientierungen jenseits der Spaß- und New-Economy- Gesellschaft“ und stellt fest: „Das Bedürfnis nach Substanz, Nachhaltigkeit und Relevanz wächst. Die ernsthafte Lektüre gewinnt wieder an Bedeutung.“ Zuletzt hat „Cicero“ dieses Versprechen damit wahrgemacht, dass es Eva Herman beim Abfassen ihrer frauenemanzipationskritischen Thesen stilverbessernd die Feder führte. In seiner Novemberausgabe spekuliert das Magazin im Gefolge der Debatte um die SS-Mitgliedschaft von Günter Grass nun über die Nazi-Verstrickungen des Philosophen Jürgen Habermas.

„Hat Habermas die Wahrheit verschluckt?“, fragt Jürgen Busche und bezieht sich auf einen vorgedruckten Zettel, den der Nazi-Pimpf 13-jährig oder 15-jährig – da gehen die Darstellungen auseinander – an seinen späteren Freund, den Historiker Hans-Ulrich Wehler, verschickte, um ihn nach mehrmaligem Fernbleiben an seine Dienstpflicht in der Hitler-Jugend zu erinnern. Wehler hob den Zettel auf, überließ ihn Jahrzehnte später dem bekennenden Linksliberalen Habermas, der ihn wiederum in den Papierkorb geworfen haben will. In den ironischen Worten von Habermas’ Frau Ute: „Er hat’s verschluckt.“

Wie reagiert man auf solch eine zum Skandal aufgeblasene Anekdote, die Joachim Fest, ohne den Namen von Habermas zu nennen, jüngst in seiner Autobiografie „Ich nicht“ ausgegraben hat? Wer sie ignoriert, unterschätzt den Schaden, den sie unkommentiert anrichtet: Selbst Habermas kam nicht umhin, sich schriftlich gegen die „Denunziation“ zu verwahren. Wer sie ernst nimmt, verdirbt jede seriöse Diskussion um persönliche Verantwortung unter totalitären Bedingungen. Wer sie weglacht, verschafft „Cicero“ immer noch die Genugtuung einer Erwähnung. Man hat also die Wahl, entweder dem Anti-68er-Trust von Busche & Co. in die Hände zu spielen oder dem politisch scheinbar nicht festgelegten, sich mit einem hohen Maß an Binnenliberalität brüstenden Populismus von Chefredakteur Wolfram Weimer. Für sein Krachmacherblatt der höheren Schichten wäre er gerne so jemand wie Kai Diekmann für die „Bild“-Zeitung. Konkurrenz macht er ihm einstweilen nur im Hinblick auf die Entpolitisierung alles Politischen: die Vergleichgültigung aller Gegenstände zum Zweck ihrer einheitlichen Inszenierung. Das Ergebnis ist nicht lebendige Auseinandersetzung – es ist das universale Einverstandensein.

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