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Kultur: Odysseus und die Börsenmakler

Uralte Mythen, neu erzählt: ein Romanprojekt mit Schriftstellern von Weltrang

Die Welt ist ein Knoten von Geschichten. Wer ihn entwirrt, entdeckt, dass es eigentlich nur zwei oder drei wirklich wichtige Geschichten gibt, die sich mit einer Leidenschaft wiederholen, als hätten sie sich nie zuvor ereignet. Der zentrale Stoff scheint, was der Mythenforscher Joseph Campbell die „Reise des Helden“ genannt hat. In seinem Buch „Der Heros in tausend Gestalten“, das als „Atlas“ der menschlichen Sehnsüchte zur Pflichtlektüre von Hollywoods Stoffentwicklern gehört, entwickelt er sie als „roten Faden“ des Erzählens überhaupt: Nachdem den Helden der Ruf des Abenteuers ereilt, bricht er aus seiner gewohnten Umgebung auf. Es verschlägt ihn an einen fremden Ort, wo ihn die „schwerste Prüfung“ erwartet, die Konfrontation mit dem Tod.

Auch die Lockmittel, die den Helden aus seinem Alltag herausrufen, ähneln sich. So wird Prinzessin Leia in „Krieg der Sterne“ vom finsteren Darth Vader gefangen gehalten – ganz so, wie der Gott Hades einst Persephone in seine Unterwelt entführte. Der Held muss seine Angst überwinden, in die Unterwelt hinabsteigen, um seine Geliebte zu retten (Orpheus), in einer Höhle mit einem Drachen kämpfen (Siegfried) oder in einem Labyrinth einem Untier gegenübertreten (Minotaurus). Es sind Archetypen, die das dramatis personae dieser Individuations-Geschichten bilden. Sie haben sich im Lauf der Zeit zu dem verdichtet, was wir Mythen nennen: der Held und sein Gegenspieler, das „andere Selbst“; die weise Alte, der Mentor, der Schwellenhüter, der Intrigant. Figuren, die einem kollektiven Unbewussten entsprungen zu sein scheinen.

Eine Herkulestat auf Initiative des schottischen Canongate-Verlegers Jamie Byng zielt dieser Tage ins Grenzgebiet von Mythos, Psychologie und modernem Geschichtenerzählen. Der Berlin Verlag hat gemeinsam mit 30 internationalen Verlagen in einer „Die Mythen“ überschriebenen und auf mindestens zehn Jahre angelegten Buchreihe Schriftsteller von Weltrang gebeten, erzählend Neuinterpretationen der mythischen Überlieferungen vorzulegen. Zu ihnen gehören die Kanadierin Margaret Atwood, die Britin Jeannette Winterson, der Russe Viktor Pelewin und der Israeli David Grossman, die Bände ganz unterschiedlichen Umfangs und verschiedenster literarischer Tonlage vorgelegt haben.

Den Auftakt der Reihe und ihren theoretischen Grundriss bildet allerdings „Eine kurze Geschichte des Mythos“ der Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong (aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, 144 Seiten, 18 €). Sie rekapituliert die Genese von Mythen quer durch die Kulturgeschichte. Die Zäsuren des Acker- und des Städtebaus, gespiegelt im Gilgamesch-Epos oder den indischen Veden, so erklärt sie, markieren zugleich Sprünge in der Evolution des menschlichen Bewusstseins. Mit dem Exodus des jüdischen Volkes beginnt die Geschichte allmählich, sich in den Mythos einzumischen, die griechischen Tragöden bewerten die Mythen erstmals als literarischen Stoff. Die „Achsenzeit“ bringt weltweit an mehreren Geburtsorten „Philosophie“ hervor, die Mythen eine mehr innerliche und ethische Dimension verleiht oder, wie in Platons berühmtem Spruch, sie als „Altweibergeschichten“ diffamiert. Dem hat die westliche Transformation der Moderne außer „Gott ist tot“ nichts Wesentliches hinzufügen können. Nachdem die „Entmythologisierung“ heute Geschichte ist, hat die Ablehnung von Märchen und Mythen im Mainstream des gesunden Menschenverstandes fast etwas rührend Asketisches angenommen.

Die Geschichte neu erzählen, ist auch das zentrale Anliegen der „Penelopiade“ von Margaret Atwood, dem literarischen Auftakt der Serie (aus dem Englischen von Malte Friedrich, 176 Seiten, 14 €).

Ihr Schöpfen aus den Quellen führt zu einer bewussten Fehllektüre Homers, die den Helden als Mischung aus Taschendieb, Börsenmakler und Amateurzuhälter darstellt. Odysseus, der männliche Abenteurer, ist der Heldensage zufolge weit herumgekommen (auch in den Betten der Göttinnen), hier wird er zum Blender und zur halbseidenen Gestalt gestempelt. Zugleich rückt Atwood die ewig duldsame Penelope, deren heiligstes Amt darin bestand, am heimischen Herd treu auszuharren, in den Mittelpunkt. In Atwoods ironischer Revanche an Homer und dessen pathetischen Männerbünden tritt Penelope selbst an die Rampe und lässt die Hochstapler in einem überlegen-lakonischen Monolog hochgehen.

Viktor Pelewin nimmt sich in „Der Schreckenshelm“ den Mythos von Theseus und dem Minotaurus vor (aus dem Russischen von Andreas Tretner, 208 Seiten, 16 €). Was für Theseus Suche und Heimkehr bedeutet, ist für den Minotaurus das Opfer in seiner brutalsten Form. Aus Pelewins verrätseltem Hyper-Text lassen sich noch grundsätzlichere, modernere Fragen formulieren: Befindet sich Theseus im Labyrinth? Oder das Labyrinth in Theseus?

Jeanette Winterson wiederum gibt in „Die Last der Welt“ (aus dem Englischen von Monika Schmalz, 114 Seiten, 14 €) dem Mythos von Atlas und Herkules eine neue Gestalt und reichert ihn mit autobiografischen Elementen an. Im Februar wird sich David Grossman in „Löwenhonig“ als Nächstes der Geschichte von Simson widmen, der einen Löwen mit bloßen Händen zerrissen haben soll.

Im Grunde gab es ja nie eine verbindliche Version eines Mythos; er existiert immer nur in der Vielfalt. Der Mythos ist eine Schlange, die sich häutet. Auch Schriftsteller haben schon immer ihre Storys auf den Ruinen alter Erzählungen errichtet. Seit Miltons „Paradiese Lost“ haben wir gelernt, den gefallenen Engel als melancholisches Temperament zu begreifen, wir sehen die „Odyssee“ durch den „Ulysses“ von James Joyce hindurch, stellen uns Sisyphos zusammen mit Albert Camus als „glücklichen Menschen“ vor. Und dieses „Spiel“ mit Versatzstücken ist nicht auf den westlichen Kulturkreis beschränkt. An Salman Rushdies „Satanischen Versen“ lässt sich ablesen, was es auch heute noch bedeuten kann, mit dem Mythos zu spielen, mit dem andere leben.

Weil es beim Geschichtenerzählen um Leben und Tod geht, gibt es solche die „nähren“ und solche die „töten“. Für Armstrong entwickelt sich das Erzählen aus dem Bewusstsein der Entfremdung (Mythos vom Goldenen Zeitalter) und der eigenen Sterblichkeit (Mythos vom ewigen Leben). Es ist, als nähme der Zuhörer in den Geschichten seine eigene Spur auf; die Auferstehung des Helden versetzt ihn in ein Hochgefühl. Ihm scheint, er könne die Welt nun mit anderen Augen sehen.

Gerade in dieser Engführung aus Mythologie und moderner Erzählkunst besticht Armstrong als Vordenkerin der „Mythen“-Serie: „Einen Roman zu lesen, ist ein Erlebnis, das uns in gewisser Hinsicht an die traditionelle Vorstellung von Mythologie erinnert. Leser müssen über Tage, wenn nicht gar Wochen mit einem Roman leben. Er versetzt in eine andere Welt. Und wie die Mythologie bewirkt auch ein guter Roman einen Wandel.“ Darin zeigt sich die heimliche Hoffnung des Projekts: den Mythos zurückzugewinnen – und damit womöglich eine Stück Unschuld.

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