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Kultur: Ohne Erzählungen sind wir blinde Bettler

Jeder Mensch, wird er nicht müde zu erklären, hat eine Geschichte. Es komme aber darauf an, sie auch zu erzählen.

Von Gregor Dotzauer

Jeder Mensch, wird er nicht müde zu erklären, hat eine Geschichte. Es komme aber darauf an, sie auch zu erzählen. Denn erst "Literatur gibt uns einen zweiten Zugriff auf die Wirklichkeit", sagt der nigerianische Romancier, Essayist und Lyriker Chinua Achebe. "Nur Erzählungen übertönen den Lärm der Kriegstrommeln. Nur Erzählungen retten unsere Nachkommen davor, wie blinde Bettler in die Dornen eines Stacheldrahtzaunes zu stolpern. Erzählungen führen uns; ohne sie sind wir blind." In der Tat dürfte es keinen zweiten Autor geben, der seinen Lesern den Blick für die Verheerungen des Kolonialismus so geöffnet hat wie der 71-Jährige vom Volk der Igbo, die zusammen mit den Yoruba und Hausa die wichtigste ethnische Gruppe in Nigeria bilden.

Hellsichtig gemacht hat er zumindest den schwarzen Kontinent, wo man ihn als Vater des modernen englischsprachigen Romans in Afrika verehrt. In Deutschland ist er nahezu unbekannt, obwohl ein halbes Dutzend seiner rund 20 Bücher bei Suhrkamp, Peter Hammer und im Alexander Verlag übersetzt vorliegt. Und in den USA, wo er seit 1990 am Bard College im Hudson River Valley lehrt, ist er zwar ein zentraler Bezugspunkt von postcolonial studies - zu einer literarischen Größe, die mit ihrem sparsamen, von Pidgin-Brocken, Igbo-Sprichwörtern und -bildern durchsetzten Stil auch Leser außerhalb von Spezialistenkreisen faszinieren könnte, hat er es nicht gebracht. Um so erfreulicher ist es, dass Chinua Achebe am 13. Oktober für sein Werk und politisches Engagement in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. In der langen Reihe hierzulande unterschätzter Autoren (wie der vor zwei Jahren ausgezeichneten Algiererin Assia Djebar) ist das ein Schritt auf dem Weg zu Achebes Traum von einer "universalen Zivilisation". Es macht nichts, dass er gar nicht genau weiß, wie sie aussehen müsste. Immerhin weiß er, wie sie nicht aussehen darf. Dazu gehört, dass im öffentlichen Bewusstsein nur Europa und Amerika als alternative Kulturformen vorhanden sind - und die kulturelle Dominanz der Vereinigten Staaten ein Stück weit zurückgedrängt werden müsste. Seine gegenwärtige Heimat ist ihm aus politischen wie persönlichen Gründen nur ein erzwungener Transitort: Seitdem er 1990 bei einem Verkehrsunfall in der Nähe von Lagos schwer verletzt wurde, sitzt er, von der Hüfte abwärts gelähmt, im Rollstuhl.

Chinua Achebe, Sohn eines Lehrers an einer evangelischen Missionsschule, der ihn - zu Ehren von Queen Victorias Mann - auf den Namen Albert taufen ließ, legte seinen christlichen Vornamen erst während des Studiums der Anglistik, Geschichte und Theologie ab. Die Auseinandersetzung mit den britischen Kolonisatoren spiegelte sich auch in Achebes 1958 erschienenem Debütroman "Things Fall Apart" (Okonkwo oder das Alte stürzt). Mit weltweit acht Millionen verkauften Exemplaren und der Übersetzung in rund 50 Sprachen ist er Achebes berühmtestes Werk. Nur gegen das Englische selbst, die Sprache seiner Erziehung, hat er nie rebelliert. "Ich habe zwei Hände, also sollen sie verschiedene Dinge tun", sagt Achebe. Folgerichtig schreibt er Gedichte in Igbo.

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