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Kultur: Ohne Gehen geht nix

Neulich habe ich mir ein Paar Schuhe zum Ins-Wasser-Gehen gekauft. Vibramsohle, Gummizug, hochwirksam gegen Muscheln, spitze Steine, Kronkorken, Glasscherben und Seeigel.

Neulich habe ich mir ein Paar Schuhe zum Ins-Wasser-Gehen gekauft. Vibramsohle, Gummizug, hochwirksam gegen Muscheln, spitze Steine, Kronkorken, Glasscherben und Seeigel. Bevor Sie dieses Spitzenerzeugnis ausprobieren, las ich in der Beschreibung, gehen Sie 30 Minuten barfuß im Zimmer herum – damit sich Ihre zivilisationsschlappen Füße an das Gefühl von Freiheit und Abenteuer gewöhnen. Es stimmt, dachte ich, während ich so ging und ging: Gehen ist das letzte Abenteuer. „Gottbeherzte, nie verscherzte / Erstlings-Paradieseswonne“, dichtete einst Mörike. Ach, seliges 19. Jahrhundert, wären wir im Garten Eden nur endlich wieder angekommen.

Das Schuhwerk spielt auf dieser Reise eine untergeordnete Rolle, letztlich. Ob Kletterstiefel oder Flipflops, knöchelbrecherische Stilletos oder schweißschluckende Wanderwunder: Hier geht es um das Ausschreiten an sich, hier zählt jeder Schritt. Der Weg ist das Ziel, ja, ja. Oder wie sagt eine alte Bergsteigerweisheit: lieber umkehren als umkommen. Setzen wir also tapfer einen Fuß vor den anderen, bergauf, bergab, kopfüber, herzunter – und staunen wir. Über das dem Menschen Mögliche. Über die unbändige Lust am Schweinehund. Über versunken geglaubte Lebenswelten. Diese mögen sich nicht sonderlich in die Weite spreizen (mehr als ein Bär, etwa 30 Kilometer, legt auch der Mensch pro Tag nicht zurück), aber sie sind immer wahrhaftig, immer echt. Wo findet man heute noch solche Gewissheit, so viel Trost.

Das Gehen ist die stille Königsdisziplin unter den Fortbewegungsweisen. Ohne Gehen geht gar nix: kein Dreiradfahren, kein Fliegen. Insofern und überhaupt ähnelt das Gehen dem Singen. Der Körper ist das Instrument. Und der Atem diktiert den Rhythmus, das Tempo, die Zeit. Systole, Diastole, der Puls aller Pulse. Allein, je unwegsamer ein Gelände, desto entschiedener müssen wir uns von dem, was tagaus, tagein in unseren Köpfen herumspukt, trennen. „Gehen wir längere Zeit intensiv in einem intensiven Gedanken“, so Thomas Bernhard in einer Erzählung, „so müssen wir das Gehen bald abbrechen oder das Denken bald abbrechen, weil es nicht möglich ist, längere Zeit gleich intensiv zu gehen und zu denken.“

Das Denken abbrechen, um weiterzukommen: Mehr Sommerfrische geht für Zivilisationsschädlinge gar nicht.

Folge 2: Unterwegs mit dem Fahrrad.

Christine Lemke-Matwey

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