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Kultur: Ohne Kunst werden wir alle verrückt

Reise durch die Zeiten: Gespräch mit der Bildhauerin Louise Bourgeois, anlässlich ihrer Retrospektive in Berlin

Mrs. Bourgeois, Ende des Jahres feiern Sie Ihren 92. Geburtstag. Können Sie uns einen Eindruck davon geben, wie der Tagesablauf in Ihrem Atelierhaus in Chelsea aussieht?

Alles, was ich noch kann, versuche ich mit Disziplin und Routine zu tun: Ich stehe um sieben Uhr auf und frühstücke mit Tee und Orangenmarmelade. Dann nehme ich meine Notizen vor und beginne zu zeichnen. Diese Notizen sind mir sehr wichtig, denn manchmal merke ich schon, dass mir eine Erinnerung plötzlich entgleitet. Dabei sehe ich meinen Nachbarn auf der Straße beim Kommen und Gehen zu. Später wechsle ich zu den Skulpturen, denn dazu braucht es eine andere Art von Konzentration. Ich folge dem Tagesverlauf durch die Stimmen der Kinder, die vom Schulhof hinter meinem Garten herüberschallen. Meistens esse ich um eins zu Mittag und arbeite bis acht Uhr abends weiter. Zwischenzeitlich gehe ich von den Skulpturen zu den Radierungen über. Meine Druckerpresse steht im Erdgeschoss, und zur Zeit sind mir die Drucke wieder besonders wichtig. Abends höre ich Radio, wobei ich versuche, Sport und Werbung zu vermeiden. Fernsehen tue ich nicht.

Unternehmen Sie noch Reisen, etwa zu Ihren Ausstellungseröffnungen?

Nein, schon seit vielen Jahren nicht mehr. Ich reise nicht durch den Raum, nur in der Zeit.

Sie blicken auf ein künstlerisches Werk von mehr als sechs Jahrzehnten zurück, sind in Paris aufgewachsen und Ende der Dreißiger Jahre nach New York gegangen. Wie hat sich Ihre Kunst verändert und woraus schöpfen Sie Ihre offensichtlich unendliche Kreativität?

Meine Arbeit ist mit den Jahren komplizierter, aber auch reicher und vielfältiger geworden. So schreibe ich heute auch Liedertexte oder singe. Momentan interessiert mich speziell die Musiktherapie. Zentraler Antrieb für mein Werk ist aber meine frühe Kindheit in Paris geblieben, die für mich nie ihre dunkle Magie und ihre Rätselhaftigkeit verloren hat.

Schon als Kind haben Sie in der Werkstatt geholfen, in der Ihre Eltern historische Gobelins restaurierten. Was bedeutete der Tod Ihrer Mutter, als Sie selbst erst zwanzig waren?

Die Ereignisse in meinem Elternhaus sind bis heute die Quelle für meine Skulpturen. Mein ganzes Werk handelt von diesen elementaren Konflikten. Man kann sagen, dass mein Vater für mich eine negative Kraft war. Ich war eher mit meiner Mutter verbunden, die 1932 starb. Sie war eine Feministin, die mich auf vielerlei Weise ermutigte und förderte. Mein Vater versuchte mich dagegen klein zu halten und wies mich immer in die Schranken. Er dachte, sich selbst als Künstler zu betrachten, sei prätentiös. Ich folge der Spur meiner Probleme bis in meine Kindheit, da diese bis heute in mir wirken.

Sie waren über vierzig, als Sie 1941 Ihre erste großformatigen Skulpturen realisierten. Warum hat es so lang gedauert, bis Sie zu Ihrer eigentlichen Profession fanden?

Schon als er meine Zeichnungen in den Dreißigerjahren sah, hat mir mein Lehrer Fernand Léger gesagt, dass ich eine Bildhauerin sei. Seitdem habe ich mich als solche empfunden. Aber ich musste lange auf den nötigen Platz warten, an dem ich meine Skulpturen realisieren konnte. Da war meine Familie...

Immerhin habe Sie drei Söhne großgezogen.

Ja, und in den Vierzigerjahren haben wir in einem Apartment gewohnt. Ich begann schließlich auf dem Dach zu arbeiten. Hier entstanden die ersten Skulpturen, die „Personages“. Die Zweidimensionalität hat mich nie völlig befriedigt. Ich wollte mehr.

Dennoch haben Sie enorm viele Zeichnungen realisiert. Viele von ihnen tragen sehr poetische Titel oder enthalten Text. Sie erwähnten auch bereits Ihre Notizen und Tagebücher. Welche Bedeutung hat Sprache für Ihr Werk?

Meine Skulpturen brauchen keine Worte. Sie stehen für sich selbst. Meine Zeichnungen und Gedanken werden dagegen durch Texte oder Titel noch präziser.

In der kommenden Woche eröffnet in der Akademie der Künste eine große Ausstellung Ihrer Arbeiten, die den Dialog zwischen Zeichnungen und Skulpturen thematisiert. Eine der Arbeiten wird „The View of the World of the Jealous Wife“ sein, eine Installation aus der Werkgruppe der „Cells". Sie haben Ihre Mutter oft als sehr rationale Person beschrieben, die nicht einmal Eifersucht zeigte, als Ihr Vater Affären mit den Dienstmädchen begann. Gibt es eine direkte Verbindung zwischen der Arbeit und Ihrer Biografie?

Ja, ein Teil der Geschichte steht hinter diesem Stück. Aber ich interessiere mich für jede Form von Eifersucht.

Lange Zeit hat man Ihre Arbeiten vor allem biografisch interpretiert. Heute sieht man das nur als einen Aspekt Ihres Werkes an. Erlauben Sie bitte dennoch die Frage: Hat es Sie als eher zurückhaltende Person nie gestört, in Ihrem Werk so viel von sich preiszugeben?

Tatsächlich müssen Sie nichts über mein Leben wissen, um meine Kunst zu verstehen. Entweder beginnen die Werke mit Ihnen zu kommunizieren oder nicht. Die Emotionen, um die es geht, sind universell.

Sie haben einmal gesagt, Ihre Art zu arbeiten sei wie das Ausbrennen von Wunden oder das Beschneiden von Bäumen. Ist es für Sie immer noch ein schmerzhafter Prozess, Kunst zu schaffen?

Die Arbeit zahlt sich für mich letztendlich aus, aber sie ist natürlich nicht immer angenehm. Schließlich versuche ich, Probleme zu lösen und mich selbst zu verstehen.

Einer der Widersprüche Ihrer Persönlichkeit ist, dass Sie in Ihren Arbeiten so offen Körperlichkeit und Sexualität thematisieren. Mapplethorpe porträtierte Sie 1982 mit der Skulptur „Filette“ im Arm, einem Latexphallus. Haben Sie Spaß an Provokationen?

Nein, gar nicht. Ich habe mich nie um das Publikum gekümmert.

Ihr Werk kennzeichnen Gegensätze: Intimität und Öffentlichkeit, Fragilität und Schwere, Rationalität und organische Strukturen. Wie intuitiv finden Sie eine Form?

Ich höre auf mein Unterbewusstsein und folge ihm.

Manche Ihrer Arbeiten scheinen einer übergeordneten, mythologischen Wahrheit zu folgen: Einige Skulpturen erinnern an eine verloren gegangene, ursprüngliche Einheit. Würden Sie sich als religiös bezeichnen?

Obwohl ich als Katholikin aufgewachsen bin, folge ich keiner organisierten Religion. Aber ich verstehe mich als spirituellen Menschen.

In Ihrem Haus treffen sich auch viele junge Künstler. Was beobachten Sie bei der nachwachsenden Generation?

Jeden Sonntag um drei öffne ich mein Haus jungen Künstlern, die sich vorher angemeldet haben. Die Teilnehmer, egal ob Musiker, Autoren, Dichter oder Sänger, präsentieren ihre Kunst, so dass jeder Salon völlig anders ist als der vorige. Auch die Motivation der Künstler ist unterschiedlich: Manche suchen Bestätigung, andere einen Job oder hoffen auf die Vermittlung einer Galerie. Das kann ich natürlich nicht bieten, schließlich betreibe ich keine Agentur. Bei anderen beobachte ich den Kampf ums Überleben und die Schwierigkeiten, die junge Künstler haben, sich ihr Leben einzurichten. Manche erzählen ihre Lebensgeschichte, was immer interessant ist. Jedes Leben ist einzigartig. In manchen Fällen kann man auch sehen, wie die Kunst den Menschen hilft. Ich habe immer gesagt, dass Kunst eine Garantie für geistige Gesundheit ist. Und einige der Leute, die da kommen, sind schon arg verrückt!

Gibt es ganz spezielle Projekte, die Sie gerne in den nächsten Jahren realisieren würden?

Ich fühle, dass ich noch viel zu sagen habe.

Sie haben in Ihrem Leben schon unzählige Gespräche geführt. Gibt es eine Frage, auf die Sie noch warten?

Nein.

Die Fragen stellte Katrin Wittneven.

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