zum Hauptinhalt
Unterwegs zwischen den Welten. Olga Martynova.

© Aleksandra Pawloff

Olga Martynova beim Literaturpreis Berlin: Vom Suchen und Finden der Flaschenpost

Über das Wunder von Literatur, die auch ohne Adressaten einen Empfänger hat. Ein Ausschnitt aus Olga Martynovas Antrittsvorlesung zur Heiner-Müller-Gastprofessur im Rahmen des Berliner Literaturpreises.

Irgendwann merkt man: Es gibt zwei Arten von literarischer Substanz. Oder, anders gesagt, zwei Literaturen. Oder, noch mal anders, eine Grenze zwischen zwei schwer zu bestimmenden literarischen Welten. Ist der Unterschied zwischen den beiden logisch überhaupt fassbar? Ihre terminologische Bestimmung ist jedenfalls von der Zeit und dem Ort abhängig. Man sagt zum Beispiel: „Mainstream“ oder „Underground“. Man sagt: „konservativ“ oder „progressiv“. Man sagt auch: „kommerziell“ oder „nichtkommerziell“. In meiner Leningrader Jugend sagte man „sowjetisch“ oder „nichtsowjetisch“. Fast zur gleichen Zeit in den USA sagte man „high art“ and „popular art“ und forderte, die Kluft zwischen U-Kultur und E-Kultur zu überwinden: „Cross the Border – Close the Gap“, wie es Leslie Fiedler einst formulierte, der damit auch die deutschen Kollegen ansteckte.

All das sind nur Wörter. Ich bezweifle, dass es logisch machbar wäre, eine Grenze zwischen dem einen und dem anderen zu ziehen. Ich glaube, ein Autor oder ein Leser weiß einfach, auf welcher Seite der Grenze er sich befindet und welche Texte auf welcher Seite sind. Von der Seite abhängig, würden andere Menschen die Beispielpaare wahrscheinlich anders benennen, etwa: „engagierte Literatur“ versus „l’art pour l’art“. Oder: „Mitteilung“ versus „Sinnlosigkeit“. Oder „nützlich“ versus „nutzlos“. Man wählt zwischen den beiden Seiten. Oder man wird gewählt. Eine der magischen Aufgaben der Literatur ist es, das, was wir intuitiv wissen, in Worte zu fassen. Deshalb werden auch die Seiten dieser Grenze immer wieder neu bestimmt. Es existiert in dieser Benennungsarbeit ein Paar, das aus zwei gleichen Hälften besteht. Auf einer Seite steht: „Flaschenpost“, und auf der anderen Seite steht: „Flaschenpost“.

Das Gedicht kann eine Flaschenpost sein

Diese Doppelung vermittelt das Gefühl, dass diese Grenze auf einmal sichtbar wird. Du zuckst zusammen, als würdest du in der Menschenmenge plötzlich beim Namen gerufen – bald wird klar werden, warum ich es so ausdrücke.

In seiner berühmten Bremer Preisrede von 1958 spricht Paul Celan von Flaschenpost: „Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiss nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit. Um solche Wirklichkeiten geht es, so denke ich, dem Gedicht.“

Ein Leser in der Nachkommenschaft

Celan, der gut Russisch konnte und Ossip Mandelstam übersetzte, mit dessen Witwe Nadeshda er sogar ein paar Postkarten gewechselt hatte, folgt hier seinem Bild. 1913 verfasst Mandelstam einen kleinen Essay, „Über den Gesprächspartner“. Darin bringt er ein Gedicht von Jewgenij Baratynskij, einem wunderbaren Dichter aus der Zeit Puschkins. Für uns sind die beiden letzten Zeilen wichtig: „So, wie ich in meiner Generation einen Freund fand, / Werde ich in der Nachkommenschaft einen Leser finden.“

Bertolt Brecht und die Unmöglichkeit des Gedichts.

Unterwegs zwischen den Welten. Olga Martynova.
Unterwegs zwischen den Welten. Olga Martynova.

© Aleksandra Pawloff

„Wenn ich dieses Gedicht von Baratynskij lese“, sagt Mandelstam, „fühle ich mich so, als hätte ich eine Flaschenpost gefunden. Der Ozean kam mit seinem ganzen gewaltigen Element dieser Post zu Hilfe – und hat ihr geholfen, ihre Bestimmung zu erfüllen. Der, der sie findet, glaubt, Prädestination zu spüren. Wenn ein Seemann die Flasche in die Wellen wirft, und wenn Baratynskij das Gedicht in die Zukunft sendet, entstehen hier deutlich zwei gleiche Punkte. Der Brief und das Gedicht haben keinen konkreten Adressaten. Dennoch haben sie beide einen Empfänger: Für den Brief ist das derjenige, der die Flasche auf dem Sand findet; für das Gedicht ist das ‚Der Leser in der Nachkommenschaft‘. Ich würde gerne einen sehen, der, wenn er diese Zeile von Baratynskij liest, nicht freudig und erschrocken zusammenzuckt, wie es einem passiert, wenn man in der Menschenmenge plötzlich beim Namen gerufen wird.“

Dieses unvergessliche Bild, ein zukünftiger Leser, der beim Lesen eines Gedichtes aus der Vergangenheit zusammenzuckt, weil er sich angesprochen fühlt, lässt wiederum jeden Dichter zusammenzucken, weil er in diesem Bild den Empfänger seiner Flaschenpost ohne Adressaten ahnt. Aber – und da beginnt das Interessanteste, jemand in der Menschenmenge hält schon Ausschau nach uns! – auf Deutsch wurde die Flaschenpost vor Celan schon einmal bemüht, unabhängig von Celan und Mandelstam.

Über die Unmöglichkeit, Gedichte zu schreiben

1942 schreibt Bertolt Brecht in seinem Arbeitsjournal, er ist gerade in Kalifornien, über die Unmöglichkeit, Gedichte zu schreiben, während woanders um die Zukunft der Welt gekämpft wird, wenn die Schlacht von Smolensk gerade läuft: „hier lyrik zu schreiben, selbst aktuelle, bedeutet: sich in den elfenbeinturm zurückzuziehen. es ist, als schreibe man goldschmiedekunst. das hat etwas schrulliges, kauziges, borniertes. solche lyrik ist flaschenpost. die schlacht von smolensk geht auch um die lyrik.“

Das ist sie. Diese Grenze zwischen zwei Substanzen. Diese vielleicht undurchdringliche Grenze. Politik kann man ausklammern, niemand würde wagen zu behaupten, dass der Ausgang der „Schlacht von Smolensk“ für Celan weniger schicksalsträchtig war als für Brecht. Von dieser Grenze gehen zwei Falterflügel symmetrisch auseinander, zwei Arten des schreibenden Menschen. Für den einen ist Flaschenpost: Wunder und Glück. Für den anderen: Quatsch in einem von glitschigem Schlick bedeckten Glas.

Olga Martynova, 1962 im sibirischen Dudinka geboren und in Leningrad aufgewachsen, lebt als Schriftstellerin in Frankfurt am Main. Dieser Text ist ein Auszug aus ihrer Antrittsvorlesung zur Heiner-Müller-Gastprofessur an der Freien Universität am Donnerstag, den 30.4. um 18 Uhr (Habelschwerdter Allee 45, Raum KL 32/202, Eintritt frei). Am morgigen Mittwoch liest sie zusammen mit ihrem Mann Oleg Jurjew um 20 Uhr im Literarischen Colloquium.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false