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Kultur: Oper ist überall

Mit seinem Buch „Walküre in Detmold“ feiert Ralph Bollmann die deutsche Musiktheatervielfalt

Vierundachtzig! 84 Bühnen spielen in der Bundesrepublik Deutschland regelmäßig Opern – mit einem fest angestellten Ensemble, mit hauseigenem Orchester und all den helfenden Händen hinter den Kulissen, die für diese vermessene Kunstgattung unverzichtbar sind. Man muss schon das gesamte Kerneuropa zusammennehmen, von Skandinavien über Großbritannien und Benelux bis nach Frankreich, Spanien und Portugal, dazu Italien, Österreich und die Schweiz, um auf die gleiche Zahl zu kommen. Ralph Bollmann hat alle deutschen Opern besucht – ein Langzeitprojekt, das sich über 13 Jahre erstreckte. Das Ergebnis ist das wunderbare Buch „Walküre in Detmold“.

Untertitel: „Eine Entdeckungsreise durch die deutsche Provinz“. Seine Opernsucht ist für Bollmann der Auslöser, um sich auf den Weg zu machen durch einen Staat, dessen historisches Wachsen und Werden sich anhand der Theaterlandschaft anschaulich erzählen lässt. Hauptberuflich arbeitet der 1969 geborene Autor als Zeitungsredakteur, 1997 begann er im Politikressort der „taz“, seit 2011 ist er wirtschaftspolitischer Korrespondent der „FAS“. Auf seiner Städtetour steuert er nicht nur den örtlichen Musentempel an, sondern streift offenen Auges durch die Straßen und erspürt mit dem Sensorium des Geschichtswissenschaftlers das jeweilige soziale Klima. Er erlebt stolze Bürgerschaften wie Kiel, Heidelberg oder Mainz, aber auch Gemeinden, in denen das Theater der letzte Anker öffentlichen Lebens ist wie in Hagen, Mönchengladbach oder Dessau. Und er überrascht mit Details: In Detmold beispielsweise hat man die Gewissheit, dass der Vorhang niemals fallen wird – weil dem östlichsten Zipfel von NRW bei der Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg die Finanzierung einer Bühne zugesichert wurde.

„Schreiben Sie mir die kleinen Theater nicht herunter!“, mahnte Monika Grütters, die Vorsitzende des Bundestags-Kulturausschusses, als sie von Bollmanns Projekt erfuhr. Er hat sich daran gehalten, Missfallen an mäßigen Inszenierungen bleibt die Ausnahme. Umso lieber lässt er seiner Begeisterung freien Lauf, wenn er Abende erlebt wie Strauss’ „Salome“ in Saarbrücken, Charpentiers „Louise“ in Flensburg oder auch Tschaikowskys „Eugen Onegin“ in Magdeburg.

Scharf geht er dagegen mit einer typisch deutschen Angewohnheit ins Gericht: „Im Guten wie im Schlechten ist der deutsche Opernbetrieb symptomatisch für das ganze Land. Die Bundesrepublik ist reich, aber unfähig, sich dieses Reichtums zu erfreuen. Was am Lautesten nach außen dringt, sind Klagerufe. Zu dem Bild, das Musiktheater sei ein sterbendes Genre, haben die Theaterleute auf diese Weise selber beigetragen.“ Ein anderes Ärgernis ist der Hochmut der Gebildeten. Theater in Universitätsstädten haben es besonders schwer: „Weil eine akademische Klientel die örtliche Oper nicht als satisfaktionsfähig betrachtet. Das Stadttheater gilt als Volksoper für die Leute, die nichts Besseres verdient haben. Man selbst besucht lieber die Großstadtbühnen.“

Das sieht der Autor anders. Besonders die kleinen Häuser haben es ihm angetan. Er schätzt die intime Atmosphäre, stört sich auch nicht daran, wenn die Musik beim klein besetzten Orchester in der Aufführung weniger samtig klingt als auf CD. Manche Seufzer über die verschlafene Provinz stößt er nur aus, wenn es darum geht, den knurrenden Magen nach der Vorstellung zu besänftigen. Man liest sich fest bei dieser Reise in 80 Abenden um die deutsche Opernwelt und möchte am liebsten gleich die Tasche packen, um wenigstens einige der architektonischen Juwelen mit eigenen Augen zu sehen: die Eleganz der Nachkriegsmoderne in Kassel, Wuppertal, Münster und Augsburg oder den Glanz früherer Jahrhunderte in Oldenburg, Koblenz und Passau.

Wo sonst auf dem Globus findet man ein 20 000-Seelen-Nest wie Rudolstadt mit eigener Musiktheatertruppe? In Hildesheim kommt man mit einem 30-köpfigen Orchester aus, in Lüneburg sind es sogar nur 29 Instrumentalisten. Zu den Operngastspielen aus Halberstadt kommen im Quedlinburger Theater rund 1400 Menschen pro Saison – so viele sitzen in Frankfurt/Main an jedem ausverkauften Abend im Saal. Im sächsischen Freiberg wird seit 1790 am selben Standort Theater gespielt, die teuersten Tickets in dem 300-Plätze-Haus kosten 15 Euro.

In Mannheim betrachtet Ralph Bollmann ein Foto von der Theatereröffnung 1959, auf dem lauter Herrschaften in den besten Jahren zu sehen sind: „Jung war das Opernpublikum nie“, konstatiert er, „das Wort der fortschreitenden Vergreisung ist eine kulturpessimistische Legende. Jugendlich wirkt auf dem Foto nur eine Serviererin mit Haube, die eine Platte voller Schnittchen reicht.“ Schöne, widersprüchliche deutsche Opernwelt.

Ralph Bollmann: Walküre in Detmold. Klett-Cotta 2011, 284 Seiten, 19,95 €.

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