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Verzweifelt verliebt. Tereza Chynavová und Ipca Ramanovic. Foto: Marijan Murat/dpa

© dpa

Oper: Nur die Liebe lässt uns leben

Absolut hitverdächtig: In Stuttgart inszeniert Neco Celic eine Opernfassung des Films „Gegen die Wand“. Das Leben junger Deutsch-Türken wird kunstfähig.

Oper. Für junge Leute? Geht doch. Nämlich mit einem Riesenchor aus trendy gestylten Jugendlichen, mit einem Break-Street-Hip-Hop-Dancer, mit Bass, Mezzosopran und Bariton. Und: mit einem Thema von heute. Junge Türkin inszeniert eine Scheinehe mit einem lebensmüden vierzigjährigen Türken, um frei zu sein, das heißt: mit möglichst vielen Männern zu schlafen. Bei dieser Art von Freiheit sind Konflikte vorprogrammiert. Allerdings nicht zwangsläufig der, dass Cahit, Ehemann auf dem Papier, sich verliebt in Sibel, dass er einen Nebenbuhler tötet und ins Gefängnis muss. Dass Sibel erst jetzt schmerzhaft erkennt: Liebe kann mehr sein als Freiheit. Das ist der Inhalt von „Gegen die Wand“, des Films von Fatih Akin, der 2004 den Goldenen Bären gewonnen hat, mit Hauptdarstellerin Sibel Kekilli, die den deutschen Filmpreis bekam – allerdings erst 2010. Das Leben junger Deutsch-Türken wird kunstfähig, immer noch zu langsam, immer noch zu wenig.

Die Oper nach dem Film fetzt. Rauschhafte Filmmusik, dramatische Opernklänge, zartes Geigenzupfen, orientalisches Flöten, türkische Rhythmen. Rimski-Korsakow, Ligeti, Ennio Morricone, Henze natürlich – die Musik von Ludwig Vollmer scheut sich nicht vor Zitaten und Übertreibung. Die Suche im reichen Fundus westlicher und östlicher Musik wird zum Prinzip.

Komponist Vollmer schrieb auch das deutsche Libretto, das er zum Teil auf Türkisch übersetzen ließ. Eine deutsch-türkische Oper, das gab es noch nie. Mit Schwung und Begeisterung vorgestellt von dem Projekt-Orchester der Jungen Oper Stuttgart, zusätzlich bestückt mit Spielern für so fremdartige Instrumente wie Saz, Kanun und Kaval, die neben der Türkei in Afrika, auf dem Balkan und im Nahen Osten gebräuchlich sind.

Der Regisseur dieser Inszenierung ist ein Glücksfall: Neco Celik wurde in Kreuzberg geboren als Sohn türkischer Immigranten. Er arbeitete als Erzieher in einem Kreuzberger Jugend-Kulturzentrum, inzwischen filmt er und führt Regie. Bekannt wurde Celik mit dem Stück „Schwarze Jungfrauen“ von Feridun Zaimoglu am Hebbel-Theater in Berlin.

Celik entwirft für „Gegen die Wand“ eine stilisierte, surreale Bilderwelt, mit Anklängen an Calixto Bieito, ohne Scheu vor Symbolik und Klischee. Bevor es peinlich wird, wird es zum Glück immer komisch. Sibels Bruder wühlt sich mit Schwimmflossen bäuchlings durch den Torfmull an der Bühnenrampe. Er kann nicht abheben, sich nicht lösen von falscher Tradition. Zwei Tänzer ganz in weiß sind Parallelfiguren zu Sibel und Cahit, Ausdruck ihrer – unbewussten – Gefühle. Choreografiert von Kadir „Amigo“ Memis, einem zweimaligen Weltmeister im internationalen Breakdance-Battle.

Abrupte Stilwechsel im Mix der Musik sind für die sechs Sänger ebenso wenig ein Problem wie für die dreißig Jugendlichen des Projektchors der Jungen Oper. Die mehrmonatige Probezeit hat aus Laien beeindruckende Profis gemacht. Der Chor raunt und lacht, kommentiert und verführt. Cool und aufreizend in Schwarz gekleidet, eine abgebrühte Jugendgang, eine mitleidslose Meute, die ihr Wild hetzt, nämlich Cahit und Sibel.

Ipca Ramanovic als Cahit ist bildschön, zu jung für die Rolle als gescheiterter Vierziger, aber immer glaubwürdig. Svetislav Stojanovic führt in wechselnden Rollen durch das Stück, als Sibels Bruder, als Türsteher, als dealender Transvestit, und brilliert in Spiel und Gesang. Tereza Chynavová ist eine leidenschaftliche Sibel, mit großer Ausdruckskraft, zart, aufbegehrend, dramatisch. Das Sehnsuchtslied der Sibel: „Ich will leben!“ ist eine hinreißende Beschwörung traditioneller türkischer Melodik, behutsam angereichert mit modernen Rhythmen und westlicher Musicalemphase – absolut hitverdächtig.

Sie singen deutsch, sie singen türkisch, es kann kein Happy End geben, weder in Istanbul, in das Sibel flüchtet, noch in Mersin, dem Ziel von Cahit. Das Scheitern ihrer Liebe ist Ausdruck ihrer Entwurzelung, sie finden keinen Ort, der sie vereint. Die anwesenden Schulklassen – und nicht nur sie – applaudierten frenetisch.

Ulrike Kahle-Steinweh

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