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Freyer

© dpa

Opernfestspiele: Aus einem Puppenhaus

Münchner Opernfestspiele: Kent Nagano, der neue Generalmusikdirektor, dirigiert die Uraufführung von Unsuk Chins "Alice in Wonderland“.

Die Fahnen der Münchner Opernfestspiele flattern im Sommerwind. Es sind die ersten unter Kent Nagano, dem neuen Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, der nach seiner Zeit als Chefdirigent des Deutschen Symphonie Orchesters von Berlin nach München gewechselt ist. Das Nationaltheater wirbt mit den Porträts des schönen Dirigenten im schwarzen Haar. Zur Eröffnung dirigierte er am Wochenende eine Uraufführung: „Alice in Wonderland“ von der südkoreanischen Komponistin Unsuk Chin.

Hinter den Kulissen hat es Differenzen zwischen Unsuk Chin und dem Regisseur Achim Freyer gegeben; die lokalen und die überregionalen Medien berichten darüber. Publikumsliebling Nagano ist davon nicht betroffen; bei der Applauszeremonie stellt er sich in die Mitte seiner Künstler. Die Regie-Verantwortlichen müssen heftige Kritik einstecken, während das vortreffliche Bayerische Staatsorchester, das Sängerensemble und die Chöre respektvoll gefeiert werden.

Es ist die erste Oper der Komponistin. Sie hat in Hamburg bei Ligeti studiert und lebt heute in Berlin. Hier gelang ihr der entscheidende Durchbruch mit dem von Nagano uraufgeführten und auch von Simon Rattle dirigierten Violinkonzert, einem ganz aus dem Instrument und dem Klang seiner leeren Saiten empfundenen Werk, das mit dem Grawemeyer Award 2004 gekrönt wurde. Die beiden Dirigenten sind die schmückenden Mentoren ihrer Laufbahn.

Eine Hauptrolle in „Alice“, die philosophierende Raupe, wird nicht gesungen, sondern von der Bassklarinette gespielt. Dem Spuk der hochvirtuosen Partie werden mittels Textprojektionen Ratschläge hinzugefügt wie man die eigene Gestalt verändern, größer oder kleiner werden könne. Dass die Titelheldin des britischen Kinderbuchklassikers immerfort wächst oder schrumpft, ist ein Geschenk des Dichters aus dem 19. Jahrhundert an die tüchtige Komponistin von heute.

Das Buch von Lewis Carroll, auf dem das Libretto des Broadway-Autors David Henry Hwang basiert, hat seine Tücken. Lauter Einzelepisoden aus einer verkehrten Welt. Alice wird im geträumten Wunderland von einem sprechenden Kaninchen geführt, dem sie in seinen Bau folgt. Sie begegnet Geschöpfen wie dem Hutmacher, dem Märzhasen oder den Spielkartenleuten mit ihrer Herzkönigin. Ordnungssysteme und Größenverhältnisse brechen zusammen.

Manches Geheimnis entschleiert sich, wenn man den Schriftsteller hinter dem Modell Alice sucht. Den Nonsensedichter: Märzhase und Hutmacher sind im Englischen sprichwörtlich verrückt. Carroll, Menschenfeind und Kinder-, aber nicht Babyfreund, war bis ans Ende seines Lebens davon besessen, kleine Mädchen zu fotografieren. Die Obsessionen prägen sein Werk: stete Rückkehr in die Kindheit, Suche nach Identität in der Verwandlung, die Zeit, die stehenbleibt, das Baby, das zum Schwein wird, von Alice in den Schlaf gesungen.

Unsuk Chins musikalische Dynamik tendiert ins Extrem. Mit auf- und abschwellendem Klang zieht die Musik alle Register, im großen Orchester mit Mandoline, Akkordeon, Celesta und Schlagwerk für vier Spieler. Häufiges Glissando. Klassikzitate. Witzige Ensembles wie „Twinkle twinkle little Star“. Die Geschöpfe, denen Alice im Traum begegnet, empfehlen sich der Klangfarbenkomponistin, weil sie in ihrer jeweils eigenen Welt leben. Das weiße Kaninchen tritt als Countertenor mit Love-Song und Trompete auf, das Raupentier als Bassklarinette, die Schlafmaus mit Schnarchlauten und Sprechgesang, die Falsche Suppenschildkröte mit jammernder Mundharmonika, die Cheshire-Katze portamento miauend. Und die Herzogin rappt – jeder hat seinen Ton.

Und doch: Da die Könnerin Unsuk Chin alles in einen modernen Wohlklang hüllt, dominiert zunehmend der Eindruck des Unverbindlichen. Es fällt schwer, sich an Alices Abenteuern beteiligt zu fühlen, ob das Mädchen im Tränenteich schwimmt oder im Fortissimo-Finale zum Säen und Ernten findet.

In englischer Sprache gesungen, werden die Rollen englisch bezeichnet. Als Queen of Hearts imponiert Gwyneth Jones neben Sally Matthews als Alice, der Königin des Abends. Artistische Gesangsleistungen vollbringen Andrew Watts (White Rabbit), Dietrich Henschel (Mad Hatter) und Piia Komsi (Cat) neben vielen anderen. Und Stefan Schneiders Caterpillar siegt auf der Bassklarinette.

Das Freyer-Theater hat mit seiner zirzensischen Verfremdungskunst schon so manche Uraufführung gerettet, von Lachenmann bis Schnebel. Hier ist es mit seinen vertrauten Mitteln, den liebenswerten Rätseln und Bewegungsabläufen, nicht weitergekommen. Ein Füllhorn von Masken, Puppen, Doubles, das für Momente bildnerisch Freude macht, ergießt sich quasi ins Nichts. So bunt kann eine Enttäuschung aussehen. Großer Einsatz für wenig Glück.

Informationen im Internet unter: www.muenchner-opern-festspiele.de

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