zum Hauptinhalt
 Die Musiker von Spira Mirabilis.

© Spira Mirabilis

Orchester ohne Dirigent: Wir spielen die Musik

An diesem Orchester könnten sich die Berliner Philharmoniker ein Beispiel nehmen: Denn die Musiker von Spira Mirabilis spielen grundsätzlich ohne Dirigent. Ein basisdemokratisches Experiment.

Stimmt die Klangbalance? Lorenza Borrani verlässt kurz das erste Geigenpult, hört vom Zuschauerraum aus kritisch hin. Nein, die Bläser sind zu laut, meint eine Bratscherin aus den hinteren Reihen. Und ein Kontrabassist schlägt vor, eine bestimmte Passage zu wiederholen. Bei den Proben von Spira Mirabilis dürfen alle Musiker gleichberechtigt mitreden. Kein Wunder, denn das Orchester spielt prinzipiell ohne Dirigent. Was bei einem sinfonischen Koloss wie Beethovens Neunter eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Und doch fügt sich am Abend bei dem Konzert in der norditalienischen Kleinstadt Formigine alles auf wundersame Weise zusammen. Selten hat man erlebt, dass Beethoven mit einer solchen Frische und sprühenden Leidenschaft interpretiert wird. Dem Orchester aus jungen Profis stehen international erfahrene Solisten und ein Laienchor zur Seite, der eine durchaus respektable Leistung zeigt.

Ein basisdemokratisches Experiment

Seit 2007 treffen sich die etwa 40 Musiker, die zumeist aus Italien, Deutschland und anderen europäischen Ländern stammen, mehrmals im Jahr zu ihrem basisdemokratischen Experiment. Auf dem Programm steht jeweils eine einzige Sinfonie, etwa von Mozart, Beethoven, Schumann oder Dvořak, die nach einer intensiven Probenphase aufgeführt wird. Nicht nur den eigenen Part zu kennen, sondern in jedem Moment auch auf die anderen zu hören, ist oberstes Gebot für die Instrumentalisten, die ansonsten mit renommierten Klangkörpern wie dem Chamber Orchestra of Europe in aller Welt auftreten.

Die Gemeinde Formigine, nur wenige Kilometer entfernt von Modena, der Geburtsstadt des legendären Tenors Luciano Pavarotti, bietet dem Orchester nicht nur unentgeltlich Proberäume und Unterkünfte, sondern hat ihm vor anderthalb Jahren sogar einen eigenen Konzertsaal gebaut. Beide Seiten profitieren davon. Denn das "Auditorium Spira Mirabilis " mit seinen gut 380 Plätzen ist seitdem kultureller Mittelpunkt einer Kleinstadt, in der es zwar eine mittelalterliche Festung, aber kein einziges Kino gibt.

Alles begann damit, dass der Geiger Timoti Fregni etwa 30 Kommunen im Umkreis von Modena um Unterstützung bat, um mit Freunden ohne den im Musikbetrieb üblichen Zeitdruck Orchesterrepertoire einstudieren zu können. Paolo Negro, damals rechte Hand des Bürgermeisters, war der Einzige, der antwortete. "Im September 2007 haben wir uns zum ersten Mal getroffen, um die Zweite Sinfonie von Beethoven zu probieren", erinnert sich der Violinist Giacomo Tesini. "Die Idee war, großes Repertoire einzuüben und jedem von uns dabei Verantwortung zu übertragen. Die öffentlichen Proben sind nach wie vor das Herzstück unseres Projekts. Zum Schluss geben wir Konzerte, zu dem alle freien Eintritt haben."

Spira Mirabilis hat sich ein Stammpublikum erobert

Spira Mirabilis hat sich auf diese Weise ein Stammpublikum erobert, das vorher kaum in Opernhäusern oder Konzertsälen anzutreffen war. "Auch wenn klassische Musik im Fernsehen kommt, schalte ich immer ab", gesteht ein Zuhörer aus Formigine. "Konzerte live zu erleben und mit den Musikern darüber zu sprechen, ist etwas ganz anderes. "

Etwa 2000 Gäste – darunter 500 Arbeiter - konnten die Beethoven-Sinfonie tags darauf in einer nahegelegenen Fabrik hören, die bei dem Erdbeben vor drei Jahren stark beschädigt wurden. In zwei Monaten spielen die Musiker dann Mozarts "Linzer Sinfonie" in einem Dorf in den Abruzzen, nahe der 2009 bei einem Beben zerstörten Stadt L' Aquila.

Seit Jahren tritt Spira Mirabilis auch außerhalb von Italien auf – im Londoner Southbank Centre, beim Aldeburgh Festival, in der Pariser Cité de la Musique, beim Bremer Musikfest oder auf Schloss Neuhardenberg in Brandenburg. Und der Kulturkanal ARTE sendete einen Film, der die Arbeit an Schumanns "Frühlingssinfonie" dokumentiert.

Internationaler Ruhm steht für diese Musiker aber nicht im Vordergrund. "Wichtig ist, dass wir uns den Freiraum erhalten, Repertoire immer weiter vertiefen zu können. Wer bei uns mitmacht, wird am Ende eines Projekts feststellen, dass noch viele Fragezeichen bleiben", sagt der Hornist und Dirigent Francesco Bossaglia. "Das ist frustrierend, aber zugleich auch das Schöne an der Sache."

Die Musiker spielen für sich

Letztlich gehe es doch darum, dass man als Musiker seine Gewohnheiten ändere, meint der Schweizer Geiger Andrea Mascetti. "Was nutzen neue Konzertformate, wenn nicht auch die Mitwirkenden umdenken? Genau hier setzt Spira an. Jeder von uns muss hinterfragen, warum er Musik macht, was er persönlich davon hat. Es macht einen Riesenunterschied, wenn man nicht in erster Linie für ein Publikum, sondern für sich selbst spielt. Diese Energie überträgt sich auch auf die Zuhörer."

Zur Startseite