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Kultur: Orgasmus mit Orchesterbegleitung

Von Carsten Niemann Das klassische Opernpublikum liebt die feine Garderobe, gilt als bejahrt und ist im Prinzip eher konservativ. Wenn es in die Berliner Opernhäuser strömt, um sich leidenschaftlichen Gefühlen hinzugeben, dann mischt es sich allerdings problemlos – und vermutlich ohne es zu ahnen – mit einem Teil der schwul-lesbischen Szene.

Von Carsten Niemann

Das klassische Opernpublikum liebt die feine Garderobe, gilt als bejahrt und ist im Prinzip eher konservativ. Wenn es in die Berliner Opernhäuser strömt, um sich leidenschaftlichen Gefühlen hinzugeben, dann mischt es sich allerdings problemlos – und vermutlich ohne es zu ahnen – mit einem Teil der schwul-lesbischen Szene. Ob da etwas mit den Klischees nicht stimmt? In Berlin, dessen prominentester homosexueller Opernfan Friedrich der Große hieß, ist Oper ohne das Tränenbedürfnis schwuler Leidenschaften kaum vorstellbar.

Erstaunlich also, dass schwule und lesbische Opernfans bisher ausgerechnet dort fehlten, wo homosexuelles Selbstbewusstsein alljährlich am lautesten und grellsten demonstriert wird: dem Christopher Street Day (CSD). Das soll morgen anders werden. Zum erfreuten Erstaunen vieler schwul-lesbischer Opernfans wird eines der renommiertesten deutschen Opernmagazine, die „Opernwelt“, mit einem eigenen Wagen auf der Parade vertreten sein. Und nicht nur das; auch die Komische Oper nimmt ihre Rolle in der Community lustvoll an: In ihren Werkstätten entstand ein schrilles Gefährt mit Kussmundsofa und Showtreppe. Auch die Kostüme für Musikfreunde, die auf dem Wagen ihre Lieblingsarien zu Playbackmusik singen werden, stammen aus dem Fundus der Komischen Oper. Das Ganze: ein schreiend-buntes Karaoke für Operndiven.

Abstieg der Götter

Vor dem Verwaltungsgebäude der Komischen Oper trifft sich die erste Abordnung schwuler Teilnehmer zur Kostümprobe. Aus einem Lautsprecher tönt die Altstimme von Jochen Kowalski auf die Straße. Mit dem schäbigen Lastenaufzug rumpelt die Gruppe zum Fundus hinauf, wandert durch labyrinthische Gänge, dann endlich weist der Ankleider dezent grinsend auf zwei Türen. „Bitte – hier für Herren, dort für Damen.“ Sehr komisch! Für Identitätskrisen hat jetzt niemand die Zeit: Zielstrebig verteilen sich die jungen Männer auf die beiden Räume, wo die bunte, tüll- und tressenreiche Kollektion aus der Produktion von „Orpheus in der Unterwelt“ aushängt. Eine gute Wahl, ziehen in Offenbachs Operette doch die Götter, unbeeindruckt von der keifenden öffentlichen Meinung, zur Party in die Hölle.

Während der Reporter schüchtern und vergeblich nach etwas Unauffälligem sucht, vielleicht mausgrau, hängt Opernfan Alessandro ein Kleid mit Pelzbesatz enttäuscht zurück auf den Bügel: „Nee – hab schon zu viel in der Richtung zu Hause.“ Im Flur kann sich ein Perserkrieger vor dem Spiegel bewundern: Die tief bis zum Nabel ausgeschnittene schwarze Rüstung lässt eine braungebrannte Brust erkennen, die ihre Wirkung nicht verfehlt: Auf dem CSD müssen Männer mit den Waffen der Schönheit kämpfen. Tilo, bereits bis zur Taille als schmucker Prinz gewandet, kämpft dagegen noch mit der Hose: „Die ist viel zu weit, da müsste man ja noch jemanden mit hinein nehmen.“ Keine schlechte Idee, findet Bernd Feuchtner, den es aber im Moment zur Damenabteilung zieht. Hier wird dem zierlichen Chefredakteur der Opernwelt prompt ein rosa Kleid aufgenötigt. Warum rutscht es bloß? Die Umstehenden wissen Rat: Der Busen braucht wohl doch ein wenig künstliche Verstärkung. Derweil wollen wir wissen, ob eine Aktion wie diese die konservativere Leserschaft seines Blattes nicht irritieren könnte?

Nein, das glaubt der Initiator des Events nicht. Schließlich, so Feuchtner, beschäftige sein Blatt sowohl den Schreibertypus „gediegener Altmeister“ als auch den „frechen jungen Hund“. Für ihn wie für Marc Chahin, Presse-Chef der Komischen Oper, ist das frische, unkonventionelle Image der Schwulen und Lesben ein willkommenes Vehikel um „offensiv“ gegen die Staubreste auf dem öffentlichen Bild der höchst vitalen Kunstgattung vorzugehen.

Arien im Techno-Beat

Doch ob auch das Motto des Wagens „Mit Kultur und Bildung gegen den Hass“ den Nagel auf den Kopf trifft? Schließlich werden zu den leidenschaftlichen Arien keine Programmhefte, sondern Kondome vom Wagen in die Menge geworfen. Ob der Koloraturenregen das Straßenfest erotisch stimuliert? Für Opernfan Alessandro ist jedenfalls klar: „Die Wahnsinnsarie aus Lucia di Lammermoor ist doch ein auskomponierter Orgasmus mit Orchesterbegleitung.“

Aber auch wer bei Donizetti lieber die Sextakkorde statt Sexakkorde wahrnimmt, kann eines nicht überhören: Der Aufbruch der Opernwelt in den Techno-dominierten CSD geht einher mit der Entstehung eines neuen sinnenfrohen Klassik-Images, das nicht auf die schwule Szene begrenzt ist.

Wer es nicht glaubt, kann sich im Beiheft zur neuesten Einspielung der Akademie für Alte Musik Berlin mit Opernarien des 18. Jahrhunderts belehren lassen. Dort bringt der Opernforscher Professor Reinhard Strohm von der Universität Oxford die Gründe für das neue Interesse an der Kunst längst verblichener Gesangsstars süffisant auf den Punkt: „Unsere Kulturtradition“, schreibt er, „die nun schon etwas ergraut ist, wird in wundersamer Weise verjüngt durch die Entdeckung, dass unsere Altvorderen ebenfalls dem Sex huldigten. Es ist dasselbe Schlüsselloch-Interesse, das wir heutigen Sängern und Hollywoodstars entgegenbringen, deren Privatleben uns sonst so entrückt scheint. Und gleichzeitig können wir damit unsere Eltern und Lehrer korrigieren, deren moralisierende ,rein kulturelle’ Auffassung der Tradition uns die Vergangenheit so langweilig und freudlos haben erscheinen lassen.“ Im Zeichen dieser Trendwende stehen die Chancen gut, das Technomonopol mit einer Musik aufzubrechen, die auch ohne Ecstasy erstaunliche Wirkungen zeigt.

Gut gelaunt und etwas aufgekratzt verlassen die schwulen Opernfans, Kostüm oder Krinoline unterm Arm, das Theater. Man plaudert über Lieblingsopern, die schwule Prominenz der Berliner Opernszene, erzählt von homophilen Subtexten jener Opernhandlungen, die nur vordergründig von der Tragödie heterosexueller Liebespaare erzählen. Dass die Opernleidenschaft, die Begeisterung für gefühlsmächtige Helden und leidensstarke Frauen auch eine Kraftquelle zum emotionalen Überleben in Coming-out-Zeiten sein kann, schimmert nur am Rande durch. Wer hat schon Lust, ständig über Gründe für ein Begehren zu spekulieren, das in den Werken der Operntradition nur versteckt erscheint?

Aus den Lautsprechern tönt zum Abschied erneut Jochen Kowalski als Fürst Orlowski: „Und fragt man mich, ich bitte, warum ich das denn tu? S’ist mal bei mir so Sitte – Chacun … son gout.“

Der Opern-Wagen fährt morgen ab 12 Uhr als Nummer 44 beim Christopher Street Day.

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