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Der dissidente Blick. 1988 fotografierte Jens Rötzsch in Leipzig die Parade der Arbeiter-Kampfgruppe, an deren Ende die rote Fahne und die Flagge des Arbeiter- und Bauernstaats eher müde flatterten.

©  Katalog Berlinische Galerie

Ost-Fotokunst: Grenzgänger, Zaungäste

Zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall scheint endlich die Zeit reif dafür zu sein, sich die Kunst des anderen Deutschland genauer anzusehen und deren Protagonisten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der DDR-Fotografie widmen sich in Berlin zurzeit gleich zwei renommierte Ausstellungen.

Der Blick zurück wird weicher, milder. Den Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Ute und Werner Mahler wohnt eine gewisse Sanftheit inne, wären da nicht jene Relikte einer vergangenen Zeit, die wie Schrapnells ins Auge gehen und den Horror von einst in Erinnerung rufen. 22 Jahre nach dem Mauerfall fuhr das Berliner Fotografenpaar die 1400 Kilometer Grenze ab, die sie als DDR-Bürger vom Westen trennte.

Die Natur hat die Überbleibsel des sozialistischen Bollwerks zurückerobert. Birken sind an den Drahtverhauen gewachsen, Efeu wuchert über Betonsstücke. Die mit einer Plattenkamera aufgenommene Serie „Wo die Welt zu Ende war“ erzählt gleichsam im Märchenton von den 40 Jahren Frontverlauf und den Menschen, die auf der Flucht ihr Leben ließen.

Heute erstreckt sich hier „Das grüne Band“, eine Art Wanderweg. Auf dem Mauerstreifen konnten sich Pflanzen ausbreiten, Vögel nisten, eine Naturidylle entstand. Wer aber auf die Reste geschleifter Dörfer stößt und zurückgelassene Wachtürme unvermittelt auf einem Feld stehen sieht, spürt erneut den Schrecken. „Stärker als in den Gedenkstätten, die entlang der ehemaligen Mauer entstanden,“ sagt Ute Mahler. Re-Inszenierungen mit Schaufensterpuppen auf Lastwagen, das gibt eher ein schiefes Bild.

Die Fotoserie entstand als freie Arbeit des Künstlerpaars, das vor 22 Jahren unter anderem mit Sybille Bergemann und Harald Hauswald die Berliner Fotoagentur Ostkreuz gründete. Heute zählt sie 18 Mitglieder – aus Ost und West. Die Benennung nach einer S-Bahn-Station im Osten der Stadt war damals programmatisch, der östliche Blick stand für eine Qualität, die überdauert hat: eine besondere Sensibilität, die Suche nach verborgenen Zeichen, eine subtile Bildsprache.

Zum zweiten Mal stellt Ostkreuz ab dem heutigen 9. November im Haus der Kulturen aus, zum 23. Jahrestag des Mauerfalls. 2009, am 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus, hatten sie unter dem Titel „Ortszeit“ eine Ausstellung mit „Geschichten aus einem untergegangenen Land“ eröffnet. Diesmal geht es um das Motiv der Grenze. Zwei Jahre schwärmten die Agenturmitglieder in alle Welt aus, in den Sudan, nach Irland, Zypern, Israel, Korea, überall dorthin, wo es neue und alte Frontlinien gibt: als Demarkation zwischen Staaten und unsichtbare Linie zwischen Menschen, als sozialer Grat.

Wie vor drei Jahren bei „Ortszeit“ rechnet man im Haus der Kulturen mit großem Publikumszuspruch, denn Ostkreuz erzählt Geschichten aus einer anderen Perspektive, als man sie aus den Medien kennt. Reißerisch sind sie nie, auch wenn sie von menschlichen Dramen berichten. Julian Röder begleitete Mitglieder der Agentur Frontex, eine Art EU-Grenzpolizei, die an Europas Rändern Immigranten abzuwehren versucht. Die Flüchtlinge zeigt er nicht, er überlässt es dem Betrachter, sich ihr Schicksal auszumalen. Sibylle Fendt blieb in Berlin und besuchte ein Asylbewerberheim, wo sie die Bewohner in ihren Zimmern porträtierte. Deren Melancholie und stille Verzweiflung steht im Gegensatz zur Nüchternheit der amtlichen Räume, der Akkuratesse der Aktenschränke.

Wiederbegegnung mit einer untergegangenen Zeit

Den Dingen auf den Grund gehen, sich selber nie auf Kosten eines Gegenstands profilieren: Heinrich Völkel nennt dies als Arbeitsprinzipien von Ostkreuz. Seine Reise führte nach Zypern, wo er die seit 40 Jahren von den Vereinten Nationen bewachte Pufferzone zwischen Nord und Süd abfuhr und verlassene Kirchen, leere Schulen, einen verrottenden Flughafen entdeckte. Die Möglichkeit, Geschichte ins Bild zu bannen, durch eine Momentaufnahme das große Ganze zu erfassen, das machte ihn zum Fotografen, erzählt der 38-jährige Leipziger. Er erinnert sich genau an jenen Augenblick, in dem für ihn urplötzlich der Beruf feststand: damals in seiner Heimatstadt bei den Montagsdemonstrationen, als ein japanischer Bildjournalist mit Teleobjektiv eine Leiter bestieg.

Wenig später trifft man Heinrich Völkel in der Berlinischen Galerie wieder, in der Ausstellung „Geschlossene Gesellschaft“, wo er versunken vor den Bildern der Leipziger Maiparade steht. Ja, irgendwo könnte er dazwischen gewesen sein, damals als Jugendlicher. Seit vier Wochen läuft die Überblicksschau „Künstlerische Fotografie in der DDR 1949–989“, ein Publikumsmagnet. Über tausend Besucher kommen täglich, DDR-Fotografie, DDR-Kunstgeschichte erlebt gerade einen Boom. In Weimar wird unter dem Titel „Sturz des Ikarus“ die DDR-Malerei gerade einer Revision unterzogen, das Neue Museum musst die Öffnungszeiten verlängern.

Zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall scheint endlich die Zeit reif dafür zu sein, sich die Kunst des anderen Deutschland genauer anzusehen und deren Protagonisten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Während die Maler bislang meist als Stabilisatoren, wenn nicht gar als Propagandisten des Systems galten, hatte sich die DDR-Fotografie schon früh den Ruf erworben, einen dissidentischen Blick auf die sozialistische Gesellschaft zu werfen. Sie erzählte vom Alltagsleben und damit auch von den Widerständigkeiten gegen das System. Einzelpositionen wurden in den vergangenen Jahren zwar gewürdigt, etwa die beiden Grande Dames Gundula Schulze el Dowy und Sybille Bergemann – in der Fotogalerie c/o Berlin als öffentlichkeitswirksamer Plattform –, aber jetzt erst hat sich ein Museum des fotokünstlerischen Erbes angenommen. „Geschlossene Gesellschaft“ ist die erste umfassende Schau zur künstlerischen Fotografie in der DDR. Und bis zum 11. November lädt der „Arbeitskreis Kunst in der DDR“ zu einer Tagung in Berlin ein, auf der die Forschung zur DDR-Fotografie vorangetrieben werden soll: Wie viel Ideologie, wie viel individuelles Lebensgefühl kommt darin zum Ausdruck?

Das Publikum fasziniert vor allem die Wiederbegegnung mit einer untergegangenen Zeit. In ihren besten Beispielen transzendiert die Fotografie eine Erfahrung, eine spezifische Ost-Erfahrung, die mit dem Fall der Mauer endete. Die Bildsprache aber blieb erhalten, der Anspruch an Fotografie als Narrativ des Verborgenen. Die Ausstellung „Über Grenzen“ im Haus der Kulturen zeugt davon.

Haus der Kulturen, John-Foster-Dulles-Allee 10, bis 30. 12.; Mi-Mo 11-19 Uhr. Katalog (Hatje Cantz) 39 €. Berlinische Galerie, Alte Jakobstr. 124-128, bis 28. 1.; Mi-Mo 10-18 Uhr. Katalog (Kerber) 59,50 €.

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