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Georgi hat seine Flugzeuge zunächst unbemerkt in seinem Zimmer im Behindertenheim gemacht.

© Atelier Goldstein

Outsiderkunst ist in: Die Kunst des Fliegens

Sein Leben lang hat Hans-Jörg Georgi in Behindertenwerkstätten Kataloge geklebt. Seine fantastischen Flugzeuge aus Karton sind in großen Museen ausgestellt - zurzeit im Pariser "Maison Rouge".

Von Barbara Nolte

Hans-Jörg Georgi kauert auf einem Drehstuhl, hält sich ein Stück Pappe dicht vors Gesicht, um einen Streifen abzuschneiden. Ohne aufzusehen, sagt er: „Ich kleb' gern Kartons.“

Georgi ist ein rundlicher Mann von 65 Jahren mit schwarz gefärbten Haaren und roter Lederhose. „Eine Leder-Jogginghose“, korrigiert er. „Habe ich mir nach meinem Entwurf nähen lassen.“ In seinem Frankfurter Atelier liegt ein halb fertiges Modell eines fantastischen Flugzeugs vor ihm, das mit seinem steilen, sechsgeschossigen Heck einem Hai ähnelt. „90 Meter Spannweite“, sagt er. „Kannste mit ’nem Airbus nicht vergleichen.“

Sein Erwerbsleben lang hat Georgi in Behindertenwerkstätten Schober für Kataloge gefalzt oder Etiketten geklebt. „Eine gute Arbeit“, sagt er. Seit vier Wochen ist er in Rente, was ihm missfällt. Dabei macht er andernorts eine späte Karriere. Er baut Flugzeuge aus Kartonage, die in den Werkstätten übrig geblieben ist. Sie sehen organisch aus, wie Fische, nur mit Tragflächen. Im Pariser Museum „La Maison Rouge“ bespielt Georgi gerade mit sechzig seiner Modelle einen eigenen Raum. „Le Monde“ und „Le Figaro“ haben Fotos seiner Luftflotte abgedruckt. Auf der Vernissage war Georgi umringt von Besuchern, denen er Skizzen auf ihre Eintrittskarten zeichnete.

Entdeckt wurde Georgi von Christiane Cuticchio. Sie ist eine elegante Frau mit silbergrauen langen Haaren, von Beruf Bühnenbildnerin. Vor fünfzehn Jahren, nachdem sie eine schwere Krankheit überstanden hatte, beschloss sie, sich dem zu widmen, wofür sie sich bereits in ihrem Kunststudium begeistert hatte. „Irrenkunst“, sagt sie. So habe man das damals genannt.

Die Pflegerinnen im Behindertenheim warfen Georgis Objekte einfach weg

Sie war auf der Suche nach Talenten, als ein Zivildienstleistender ihr die Skizze einer Flugzeugkonstruktion gezeigt habe, erzählt sie. Die hatte ihm Georgi zugesteckt. Mitarbeiter des Heims, in dem Georgi wohnt, warnten sie vor einem Besuch. Georgi galt als unberechenbar. Cuticchio nahm sich vorsichtshalber zwei Studentinnen mit, und so stießen die drei auf Georgi inmitten unzähliger seiner bizarren Flugzeuge. Eine Betreuerin habe zur Tür hereingeschaut und gesagt: „Da sehen Sie es! Das müssen wir alle sechs Wochen wegschmeißen.“ Cuticchio ließ alle Flugzeuge in Gewahrsam nehmen. Georgi bot sie einen Platz in ihrem „Atelier Goldstein“ an, das sie speziell für behinderte Künstler gegründet hatte.

Sie habe ja Verständnis dafür, dass in Wohnheimen Hygiene vorgehe, sagt Cuticchio, und die Flugzeuge beim Putzen im Weg seien. Deutschlands Behindertenheime und der Kunstbetrieb sind zwei Welten. In der modernen Kunst ist gerade der nicht-normale, der andere Blick gefragt. Die Kunst integriert nicht aus Humanität, sondern aus ihrer eigenen Logik heraus Männer wie Hans-Jörg Georgi.

Bereits in den 1920er Jahren trug der Psychiater Hans Prinzhorn die erste Sammlung von Werken psychisch Kranker zusammen, auf der sein Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ fußt. Im Berliner Museum Scharf-Gerstenberg sind Teile der Sammlung zurzeit ausgestellt. In den 1940er Jahren schuf der Künstler Jean Debuffet das Etikett „Art Brut“ für Werke von Autodidakten und psychotischen Künstlern. Er proklamierte die Aufnahme dieser Kunstgattung in den offiziellen Kanon, da es „ebenso wenig eine Kunst der Geisteskranken wie eine Kunst der Magenkranken oder der Kniekranken“ gebe.

Um Behindertenkunst gibt es zurzeit auf dem Kunstmarkt einen Hype

Mittlerweile hat sich der Begriff Außenseiterkunst durchgesetzt, obwohl die so bezeichneten Künstler zurzeit im Zentrum des Interesses stehen. Im Gegensatz zur oft selbstreferentiellen, theorielastigen Gegenwartskunst gelten sie als besonders authentisch. Die New Yorker Messe „Outsider Art Fair“ hat seit vergangenem Jahr einen Ableger in Paris und die auf diese Kunstart spezialisierte Kölner Galerie „Zander“ seit September eine Dependance in Berlin.

Was kommt an vom Hype bei Georgi? „Ich bin berühmt“, sagt er, während er mit einer Klebepistole einen Pappstreifen bestreicht. „Ich auch“, ruft eine Stimme von hinten. Sie gehört zu Birgit Ziegert, einer kleinen Frau Ende 40, die ein seltsam geformtes Kissen mit bunten Wollfäden bestickt. „Das ist eine Dinosaurierschildkröte“, sagt sie. Ziegert hat in der Kunsthalle „Schirn“ anlässlich einer Ausstellung das Treppenhaus bemalt. Georgi ist nicht der einzige Künstler aus dem „Atelier Goldstein“, der im Kunstbetrieb auf Resonanz stößt. Der Fabrikant und Kunstsammler Würth beispielsweise hat einige der abstrakten Bilder von Christa Sauer gekauft. Sauer arbeitet im Rücken von Georgi. Beide sind ähnlich alt. Sauer hat das Downsyndrom. Als sie Kind war, prognostizierte ein Arzt, dass sie keine zehn Jahre alt würde. Deshalb machte keiner sich die Mühe, sie zu fördern. Weil so wenig mit ihr gesprochen wurde, haben sich ihre Stimmbänder zurückgebildet. Wenn Sauer zu sprechen versucht, klingt es wie ein Krächzen.

Menschen mit verschiedenen Behinderungen arbeiten im Atelier Goldstein

Hans-Jörg Georgi kann nur schwerlich laufen. Er hatte Kinderlähmung. Bei der Behandlung wurden ihm die Beine gebrochen, eine schmerzhafte Prozedur. Im Atelier bleibt er meist auf seinem Drehstuhl sitzen, der unten Rollen hat. Jetzt schiebt er sich damit in Richtung Küche.

Dort sitzen acht Künstler, vier Betreuer und Cuticchio beim Mittagessen: die Donnerstagsbesetzung des Ateliers. Montags und dienstags kommt eine Hälfte der Behinderten, mittwochs und donnerstags die andere. An den übrigen Tagen gehen die Künstler weiterhin in die Werkstätten. Nur durch die Arbeit dort bleiben sie sozialversichert. In Deutschland ist es nicht vorgesehen, dass geistig Behinderte finanzielle Werte schaffen. Wenn ein Künstler etwas Nennenswertes verdient, muss er das Geld wieder abgeben. Damit wird die Heimunterbringung beglichen, die sehr teuer ist. Cuticchio findet das gerecht. Ihr geht es sowieso nicht ums Geschäft. Sie will ihre Künstler in der Kunstgeschichte etablieren und nicht im Kunstmarkt. Georgis Flugzeuge will sie in großer Stückzahl beisammenhalten, um sie alle zusammen an ein Museum zu verkaufen. Nur wenn ein Modell doppelt sei, sagt sie, sei es zu haben. Tausende Euro ist jedes wert.

„Was gibt’s, Meister?“, fragt Hans-Jörg Georgi in der Küche den Mann am Herd, einen verrenteten Manager und ehrenamtlichen Koch, und lacht. Georgi gilt in der Ateliergemeinschaft als Spaßvogel. Vielleicht ist das die Rolle, die Behinderten in der Nachkriegszeit blieb: sich lustig zu geben, weil sie nicht ernst genommen wurden. Seine Bedürfnisse hat Georgi nicht zu formulieren gelernt. Nach einem unerfüllten Wunsch befragt, sagt er: „Ein Leder-T- Shirt. Will ich mir nähen lassen. Mit Stehkragen. Darauf spare ich.“

Georgi hat kein Verhältnis zum Geld. Es wird von einem gesetzlichen Vertreter verwaltet. Auch wenn die Künstler des „Atelier Goldstein“ im Kunstbetrieb mitspielen, bleiben sie im Alltag hilfsbedürftig. Am Abend werden sie nach Hause gebracht. Bereits eine Weile, bevor es losgeht, liegt eine Künstlerin im Vorraum auf einem Sofa und hält sich die Ohren zu. Sie ist Autistin. Ihr sind die Menschen zu viel geworden. Ein junger Mann führt sie zum Bus.

Zwei Stunden dauert die Runde, in der die Künstler bei ihren Einrichtungen abgesetzt werden, die am Stadtrand liegen. Die Busfahrt durch den Frankfurter Berufsverkehr ist der Transit zurück in ihr normales Behindertenleben. Georgi wohnt in der Praunheimer Mühle, einem ausgebauten Gehöft. „In meinem Zimmer bastle ich nicht mehr“, sagt er.

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