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Der Blick auf den Nachwuchs spielt seit jeher mit den Attributen der Gewalt. Philipp Otto Runges „Hülsenbecksche Kinder“, 1805/06 (Ausschnitt).

© dpa

Pädophilie-Debatte: Der Körper des Kindes

Gewalt, Missbrauch und Pädophilie: Die Debatte betrifft alle Parteien und Milieus. Erst wenn die Bereitschaft wächst, Kinderrechte jenseits ideologischer Fraktionen zu achten, steht endlich das Kindeswohl im Mittelpunkt.

Von Caroline Fetscher

Wieder eine Enthüllung. Auch eine Spitzenkraft der Grünen war vor einem Vierteljahrhundert dabei, als es darum ging, sexuellen Umgang mit Kindern und Jugendlichen zu „entkriminalisieren“. Wieder eine bittere Wahrheit, wie schon bei den Katholiken, den Heimerziehern in Ost und West. Ja, auch in der Szene der Alternativen und Ökoideologen gab es Triebtäter und Triebideologie.

Reaktionäre rechtfertigten ihr Tun durch das Entwerten der Opfer („das Kind hat es nicht besser verdient“). Progressive rechtfertigten ihr Tun durch das vermeintliche Aufwerten der Opfer („Kinder sollen lieben dürfen, wen sie wollen“). Beide Strategien versuchten, die Befriedigung von Bedürfnissen der Erwachsenen zu legitimieren, der Täter.

Zur selben Stunde, als in Berlins Kommune II sexuelle Experimente beim „Kuscheln“ mit Vierjährigen gemacht wurden, zur selben Zeit, als der „libertinäre“ Klaus Kinski seiner elfjährigen Tochter Reizwäsche kaufte und an der Odenwaldschule vorpubertäre Jungen das Bett mit Lehrern teilten, ließen katholische Erzieher ihre sadistisch verdrehten Triebe an Minderjährigen aus, vergingen sich Verwandte in biederen Familien prügelnd oder fingernd am Nachwuchs. Auf der Larve der einen stand „sexuelle Befreiung“, auf der anderen „traditionelle Disziplinierung“. Aber die Larven waren aus demselben Stoff, produziert in der Manufaktur der Geschichte. Das ist die historische Wahrheit, an der nicht zu rütteln ist.

Wer will da den ersten Stein werfen? Alle wollen sie das. Um das Kindeswohl geht es auch bei der aktuellen Debatte kaum. Man will politische Munition beschaffen, gesucht wird der Empörungsgenuss, auch der mediale, im Wahlkampf. Form und Ton der Debatte sind unethisch, abstoßend, widerwärtig, zynisch. Statt ums händereibende Inkriminieren müsste es ums Deuten und Verstehen gehen.

Die Kritik der Jugend an den NS-verstrickten Eltern änderte das Klima

Hierarchische Muster, die der Gewalt gegen Kinder zugrunde liegen, gehören zur Sphäre des Transpolitischen. Sie gehen alle an, alle gleichermaßen. In ihnen spiegeln sich Äonen der Machtausübung über das Kind, den ewigen Untertan der Erwachsenen, den Sündenbock, Blitzableiter, designierten Erben der etablierten Ordnung. Der Kampf um die Macht über den Körper des Kindes war immer auch ein Feldzug gegen dessen Emotionen, Sexualität, Persönlichkeitsrecht.

1896 erklärte das Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich, der Vater dürfe „kraft Erziehungsrechts angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden“. Bis 1928 durfte er auch seine Ehefrau schlagen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, unter dem Eindruck des NS- Zerstörungswahns, entstanden in Deutschland Initiativen wie der 1946 gegründete „Arbeitskreis Neue Erziehung“. Ganz oben auf dessen Liste stand „die Abschaffung der Prügelstrafe“. Äußerst mühevoll warben derlei Vereine um gesellschaftliche Zustimmung. Als am 1. Juli 1958 das Gleichberechtigungsgesetz für Mann und Frau in Kraft trat, durften fortan auch Mütter Gewalt gegen ihre Kinder anwenden. Rasch holten sie auf, wie eine Studie zur „Gruppengeistigkeit“ der Deutschen von 1964 zeigt. Bis zu 85 Prozent aller Eltern hielten physische Gewalt gegen Kinder für notwendig, diese übten nun mehrheitlich Mütter aus. An der Spitze der Statistik stand die Stadt Berlin.

Mit der wachsenden Kritik der jüngeren Generation an autoritären Strukturen und NS-verstrickten Eltern änderte sich das Klima. Im Übergang von einer industriellen Mangelwirtschaft zur Überfluss- und Konsumgesellschaft, so konstatiert der Sozialpsychologe Hans-Jürgen Wirth, verlor zudem die „patriarchalisch autoritäre Charakterformation“ ihre Funktion, die auf Ordnung, Sparsamkeit und hierarchische Orientierung setzte. Die Konsumgesellschaft erforderte eher Flexibilität, Hedonismus. In dieser Transformation erkennt Wirth den Hintergrund der weltweiten Jugend- und Protestbewegungen der 60er und 70er Jahre, charakteristisch für sie sei die paradoxe Gleichzeitigkeit von Hedonismus und Konsumkritik. Auch die Kommerzialisierung von Sexualität – siehe die Beate-Uhse-Shops – sahen linke Intellektuelle als systemstabilisierend an, und Herbert Marcuse sprach 1967 von „repressiver Entsublimierung“.

Bis 1968 galten Kinder juristisch nicht als Subjekte mit eigenen Rechten

Der Blick auf den Nachwuchs spielt seit jeher mit den Attributen der Gewalt. Philipp Otto Runges „Hülsenbecksche Kinder“, 1805/06 (Ausschnitt).
Der Blick auf den Nachwuchs spielt seit jeher mit den Attributen der Gewalt. Philipp Otto Runges „Hülsenbecksche Kinder“, 1805/06 (Ausschnitt).

© dpa

Gleichwohl, die Kritik an tabuisierter, reglementierter Sexualität wurde integraler Bestandteil so gut wie jeder linken Gruppierung. „Tausende entdeckten erst in dem kollektiven Gebrodel von 1968 ihre persönlichen Eigenarten“, schrieb Peter Schneider im Rückblick. „ Nie habe ich seither in so kurzer Zeit von so vielen so viel über ihre Wünsche und Ängste erfahren.“ Wiederentdeckt wurden auch Sigmund Freud oder Wilhelm Reich. Kinder, las man bei ihnen, sind Wesen mit sinnlichen, erotischen Empfindungen, die zu unterdrücken, zu verteufeln, ihre Lebenslust und ihren Selbstwert angreift.

Neben den sinnlichen wurden auch die emotionalen und kognitiven Bedürfnisse von Kindern sichtbarer. Pädagogen, Soziologen und Psychologen befassten sich damit, Eltern, Lehrer, die Medien. 1968 nahm sich sogar das Bundesverfassungsgericht der Kinder an; sie sollten das Recht auf die Entfaltung ihrer eigenen Persönlichkeit erhalten. Bis dahin hatte man Kinder juristisch „nicht als Subjekte und als Träger eigener Rechte begriffen“, erklärt Lore-Maria Peschel-Gutzeit. Berlins frühere Justizsenatorin erinnerte im aktuellen Newsletter der „Deutschen Liga für das Kind“ an den bahnbrechenden Richterspruch von 1968, wonach Elternrecht primär als Verantwortung zum Schutz des Kindes zu verstehen ist. Kinder erhielten die Grundrechtsmündigkeit, die ihnen vorher abgesprochen worden war.

Erst im Jahr 2000 wurde das Züchtigungsrecht abgeschafft

So klar das Recht es formulierte, so unklar blieb die Erkenntnis in der Bevölkerung. „Das unterdrückte Kind? Das war ja ich!“ dämmerte es vielen. In quasi nachholender Entsublimierung agierte man Fantasien an Kindern aus – und in diese Epoche fallen die Entgleisungen anarcho-subkultureller Hijacker alternativer Strömungen wie die „Arbeitsgemeinschaft Pädophilie e. V.“ mit Sitz in Krefeld oder die „Kinderbefreiungsfront Pforzheim, Karlsruhe“. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums erregten sich Bürger über das Ende der Disziplin, den Verlust des kindlichen Respekts vor Autoritäten, kurz: den Untergang des Abendlands.

Wer allerdings weder an der eigenen Befriedigung noch an der eigenen Autorität interessiert war, sondern an realen Rechten für Kinder, hatte es schwer. Peschel-Gutzeit schreibt, dass trotz der Entscheidung des obersten Gerichts „ein Züchtigungsverbot“ 1968 undenkbar war. Systematische oder impulsive Gewalt gegen Kinder war in „linken“ wie „rechten“ Elternhäusern weiter gang und gäbe.

Sozialdemokraten, einige Liberale und bald auch Grüne bildeten ab Ende der 70er Jahre gegen den vehementen Widerstand der Christdemokraten die treibende Reformkraft. Unter der rot-grünen Regierung wurde im November 2000 das Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber Kindern endlich ersatzlos aus dem deutschen Gesetzbuch gestrichen. Paragraf 1631 Absatz 2 des BGB lautete jetzt: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“ – eine bis heute wenig bewusste Revolution.

Erst wenn die Bereitschaft wächst, Kinderrechte jenseits ideologischer Fraktionen zu achten, steht endlich das Kindeswohl im Mittelpunkt. Das zu definieren, verweigert der Gesetzgeber bis heute, angeblich aus Kostengründen. Von tiefgreifender Reform scheint unsere Gesellschaft im Moment sehr fern zu sein.

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