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Kämpfen lassen. Die Contraden, die Stadtteile von Siena, mieten sich Jockeys. Letztes Jahr gewann beim Palio di Provenzano Alberto Ricceri für die Contrada Drago.

© Fabieo di Pietro/dpa

Palio di Siena: Zehn Pferde für ein Ave Maria

90 Sekunden italienische Ewigkeit: An diesem Sonntag steigt wieder der Palio di Siena, das härteste und kürzeste Rennen der Welt.

Wenn in diesen Tagen ganz Italien vor der Sommerhitze flüchtet und zum Ferragosto am 15. August Kühlung an den Küsten und Seen sucht, gießen die Sienesen gleichsam Öl ins Feuer ihrer Leidenschaft: mit dem Palio, dem gefährlichsten Pferderennen der Welt. Der schweißtreibende Wettstreit dauert nur 90 Sekunden, für diese kurze rauschhafte Spannung lebt Siena das ganze Jahr.

Doch wie lange noch? Schon häufig gab es Proteste von Grünen und Tierschützern, die dem Rennen ein Ende bereiten wollen, weil Reiter und Pferde regelmäßig verletzt werden. Und dann stand infolge der Finanzkrise die weltweit älteste noch existierende, 1472 gegründete Bank Monte dei Paschi vor dem Zusammenbruch und musste durch hohe staatliche Kredite gerettet werden. Sie hatte den Palio großzügig mitfinanziert und muss seit 2014 passen. Nun zahlen die Sienesen den Wettkampf vollständig aus ihren privaten Kassen, die freilich mit der Krise in Italien immer leerer werden. Das bringt den Palio zusätzlich in Gefahr. Aber noch lässt sich die toskanische Kleinstadt ihr liebstes Spektakel nicht nehmen.

Schauplatz ist das Herz von Siena, die muschelförmige Piazza del Campo. Dort wird der Palio zweimal jährlich ausgetragen, jeweils zu Ehren der Gottesmutter: am 2. Juli (Palio di Provenzano) und am 16. August (Palio dell’Assunta). Gekämpft wird um ein langes, an einer Hellebarde befestigtes Siegesbanner aus Seide, den Palio – eine bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition. Die Stadt pflegt ihr mittelalterliches Erbe auch sonst mit Stolz. Zum Beispiel werden die Sienesen zweimal getauft, einmal in der Pfarrkirche und einmal am Brunnen jener Contrada, des Stadtteils, in dem man geboren wurde.

Von den zahlreichen, durch Tiere repräsentierten Contraden gibt es noch 17. Jeweils zehn davon nehmen am Palio teil, in wechselndem Turnus. Die Stadtteile sind untereinander verbandelt, in inniger Freund- oder Feindschaft. Das Paradoxon dieser hochkultivierten, friedlich ausgetragenen Spannungen gipfelt im Rennen. Für die Dauer des Palio verwandeln sich die Contraden wieder in gegnerische Mikro-Stadtrepubliken.

Der Palio alla lunga durch die Straßen der Stadt ist bereits für das 12. Jahrhundert verbürgt. Den viel schnelleren Lauf auf der Piazza del Campo gibt es seit 1605, die Regeln wurden 1721 festgelegt und seitdem kaum geändert. Drei Tage vor dem Wettkampf werden die Pferde den Contraden per Los zugeteilt. Die Contradaioli reiten nicht selbst: Für hohe Gagen heuern sie die Fantini an, möglichst kleingewachsene Jockeys, die ohne Sattel reiten und überwiegend aus Sardinien kommen – wie übrigens auch die feurigen, meist reinrassigen Araberpferde. Bei sechs Probeläufen, den Prove, lernen sich Pferd und Reiter dann kennen.

Das eigentliche Rennen ist ein exklusives Spektakel. Wenn das Siegesbanner gegen 18 Uhr vor dem Rathaus aufgestellt wird, endet der Einlass in den Zuschauerbereich im Inneren der Rennbahn. Wer auch in Cafés, Bars oder einem der Häuser am Campo keinen Platz ergattern konnte, dem bleibt nur der Fernseher: Etliche der 54 000 Sienesen verfolgen das Rennen auf dem Bildschirm.

Nicht nur die Reiter trainieren das ganze Jahr

Monatelange Arbeit für 90 Sekunden: Die Spannung gründet auf den ausführlichen Vorbereitungen genauso wie auf den Unvorhersehbarkeiten. Nicht nur die Reiter trainieren das ganze Jahr, auch die Contradaioli üben sich im Werfen der Bandiere für den vorausgehenden Trachtenumzug, eine Tradition, die ihre Wurzeln in Deutschland hat. Pferd und Reiter werden in der Contradenkirche geweiht. Die Rennpiste, ein 20 Zentimeter dicker und siebeneinhalb Meter breiter Gürtel aus Tuffsteinmischung, wird fünf Tage vor dem Palio um die Piazza gelegt. Am Vorabend verwandeln sich die Straßen und Plätze für die Cena, das Abendfestessen, in riesige Speisezimmer. Und manche Frau, die einen Ehemann aus einer „feindlichen“ Contrada hat, zieht für die Zeit des Palio sogar ins Elternhaus zurück.

Gedehnte, gedrängte, komprimierte Zeit, auch das ist der Palio: Dem Rennen geht der zweistündige, von Trommelschlag und Posaunen begleiteter Corteo storico voraus. Wenn dann der Mossiere, der an der höchsten Stelle der Piazza sitzende Startleiter, den Umschlag mit der Startreihenfolge öffnet, wird es still für einen Moment. Es ist die Stille vor der Mossa (deutsch: Bewegtheit), der von eregten Zurufen begleiteten Zeitspanne, bis die Pferde in korrekter Abfolge vor dem Startseil stehen. Die hochsensiblen Tiere tänzeln aufgeregt hin und her, drängen einander ab und schlagen aus, was, Fehlstarts eingeschlossen, bis zu einer Stunde dauern kann. Bei Reitern, Pferden und Zuschauern herrscht eine nervenzerreißende Spannung. Ist der Start gelungen, wird der Platz „ein tobender Trichter“, wie Carlo Fruttero und Franco Lucentini im Krimi „Der Palio der toten Reiter“ (1983) schreiben. Anfeuerungsschreie füllen den Campo; die Fieberwellen der Erregung erreichen selbst jene, die das Rennen im Gedränge gar nicht sehen können.

Sieger ist das erste Pferd, das die Piazza dreimal umrundet hat – ob mit oder ohne Reiter. Die Zweiten und Dritten kommen nicht aufs Treppchen, sie sind die wahren Verlierer. Der Sieg allein zählt. In Siena gibt es nur Schwarz oder Weiß – wie die Farben des Stadtwappens und das markante Zebramuster des Doms. In Sekundenschnelle drängen die jubelnden Contradaioli zum siegreichen Ross und Reiter, geleiten diese im Triumphzug zum Dankes-Te-Deum in den Dom und zum Feiern in die Contrada, wo der Wein bis in die Morgenstunden fließt. Am Tag darauf sieht man Erwachsene Schnuller tragen: So geben sich die Sieger zu erkennen, denn das Siegesbanner wird auch Cittino (Kindchen) genannt.

Es ist ein Kampf der Extreme. Siegeseuphorie und Verliererunglück kommen kaum je so deutlich zum Ausdruck wie in Siena. Mancher Stadtteil hat seit Jahrzehnten nicht gewonnen, am ärgsten steht es um die Contrade Lupa, die seit 1989 nicht mehr gewonnen hat. Und ja, es stimmt, es kommt immer wieder zu Unglücksfällen, vor allem in der Curva di S. Martino, in der das abschüssige Halbrund des Platzes in einem 90-Grad-Winkel in die Horizontale vor dem Rathaus mündet. Inzwischen werden hier Kissen befestigt, um Verletzungen vorzubeugen.

Was dem Florentiner der Calcio, der Fußball, ist dem Sienesen der Palio. Wobei das jedes Jahr von einem Künstler gestaltete Siegesbanner diesmal von einer Florentinerin stammt, der renommierten Künstlerin Elisabetta Rogai. Fünf Tage vor dem Rennen wird es im Hof des Palazzo del Comune präsentiert und stellt neben Maria stets die Bannerfarben der teilnehmenden zehn Contrade und die schwarzweiße Balzana dar. Rogai malt mit Rot- und Weißwein, damit die Pigmente natürlich altern. Den ohnehin ungemein farbenfrohen Palio hat sie unter anderem mit Brunello di Montalcino gemalt.

Und danach? Kehrt Ruhe in Siena ein. „Am 17. August beginnt der Winter“, sagen die Sienesen. Und so soll es auch bleiben. Dem in den Contraden verkörperten Bürgersinn scheint es fürs Erste gelungen zu sein, den Palio zu retten.

Übertragung am 16.8., 18.05 Uhr auf Rai 2, 96 Stunden live unter http://www.canale3toscana.com/live-streaming. – Die Autorin lehrt Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Nicole Hegener

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