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Wer bereits in jungen Jahren in den Teufelskreis der Prostitution gerät, dem gelingt nur schwer die Rückkehr in ein bürgerliches Leben, meint Rosa von Praunheim. In seinem Dokumentarfilm porträtiert er fünf Jugendliche, die ihr Geld auf dem Strich am Bahnhof Zoo verdient haben.

© Berlinale

Panorama: Das Fleisch ist schwach

Rosa von Praunheim traf "Die Jungs vom Bahnhof Zoo". Im Gespräch mit dem Tagesspiegel erzählt er von seiner Angst vor dem Strichermilieu und den Sehnsüchten der Freier.

Im alten West-Berlin konnte man nicht mit der Bahn verreisen, ohne die Stricher und Drogenabhängigen vom Bahnhof Zoo und deren Kunden wahrzunehmen. Eltern gerieten in Erklärungsnot, wenn ihre Kinder unbequeme Fragen stellten. Was machen die hier am Bahnhof, wenn sie sich gar nicht für die Bahn interessieren?

Ein Kultbuch und ein Kultfilm haben einige dieser Fragen beantwortet. Ganz Deutschland kannte bald die Geschichte von Christiane F., dem Mädchen vom Drogenstrich. Und nicht alle verstanden die Geschichte als Warnung. „Viele aus der Provinz fanden das toll und wollten auch mal auf den Strich gehen“, erinnert sich Rosa von Praunheim, dessen neuester Film von diesem Ort handelt. „Und dann sind sie in Drogenmilieus gekommen und versackt.“

Strichjungen kommen in der Geschichte von Christiane F. nur als Nebenfiguren vor. Das Schicksal eines Christian F. hätte die Nation nicht so tief bewegt. Weibliche Prostitution wird traditionell romantisiert, der Kontakt zu Kunden wie Hugh Grant oder Silvio Berlusconi lustvoll ausgemalt. Die einzigen Stricher, die es mit Foto auf die Titelseite geschafft haben, sind die Mörder von Pier Paolo Pasolini und Rudolph Mooshammer.

Nicht Desinteresse oder fehlende Fördergelder, sondern schlicht Angst erklärt Rosa von Praunheims sehr späte Beschäftigung mit einem Thema, das eigentlich längst Geschichte ist. Er selbst wird es nicht weiterverfolgen. „Das ist halt ein kriminelles Milieu, da werden Adressen weitergegeben, da werden Leute überfallen, werden Leute ausgeraubt. Bei Drogen und Armut ist das auch verständlich. Deswegen bin ich auch froh, dass ich das ganz gut überstanden habe.“

"In der Schwulenszene wirst du nach deinem Körper beurteilt. Bei den Strichern als Mensch"

Fünf Stricher hat Praunheim porträtiert. Gewalt im Elternhaus, Erziehungsheim und Jugendknast sind die üblichen Stationen. Direkt zur Prostitution gezwungen wurden sie nicht, es hat sich einfach so ergeben – und es gab keine Alternative. Diese Jungen sind nicht sozial abgestürzt, sie sind unten geblieben. Deshalb besteht für sie kein Grund, das Anschaffen zu bereuen. Eine Ausnahme ist der in Ost-Berlin aufgewachsene Daniel- René, der seit seinem sechsten Lebensjahr von einem Hausmeister missbraucht und an andere Pädophile weitergereicht wurde. Seine Peiniger waren zugleich seine Familie, deshalb hat er sich so viel gefallen lassen. Auf die Frage, ob auch Analverkehr mit ihm praktiziert wurde, antwortet er: „Ja, aber da war ich schon acht Jahre alt.“

Der Pädophilenring, mit dem er seine Kindheit verbracht hat, ist inzwischen aufgelöst worden, und Daniel-René scheint in guten Therapeuten-Händen zu sein. Kein Grund zum Aufatmen: Praunheim ist überzeugt davon, dass diese Subkultur weiter existiert. Er selbst hat sich, anders als so viele Zeitgenossen, zwar nie für die „sexuelle Befreiung des Kindes“ eingesetzt, aber er hat die Gefährlichkeit dieser Bestrebungen lange Zeit unterschätzt. Jetzt denkt er anders über den Umgang mit Kindersexualität: „Da bin ich auch einiger Illusionen beraubt worden.“

Nicht weniger schockierend sind die Erzählungen von Nazif, einem bosnischen Roma, der von seinen Eltern zum Dieb abgerichtet worden ist. Als sein Vater erfuhr, dass er seinen Körper für Männer verkauft, fügte er ihm schwere Brandverletzungen zu. Für Nazif war das Gefängnis die Rettung, hier hat er Lesen und Schreiben gelernt. In einer bewegenden Ansprache entschuldigt er sich bei den Opfern seiner Raubzüge. Ionel dagegen, ebenfalls Roma, könnte jederzeit MTV- Moderator werden. Die ärmlichen Verhältnisse, aus denen er stammt, sind ihm nicht anzusehen.

Die anderen Stricher, die Praunheim aufgesucht hat, scheinen den Ausstieg zu bewältigen. Keine Selbstverständlichkeit. „Wer früh in eine Stricherszene kommt, verliert die beste Zeit seines Lebens. Wo du etwas lernen, in die Schule gehen, einen Beruf erlernen kannst. Da versäumen sie einen bürgerlichen Einstieg, und der ist dann ab einem gewissen Alter schwer nachzuholen.“

Ein Aspekt der Stricherszene, der Praunheim besonders am Herzen liegt, ist die HIV-Prävention. „Das war meine Arbeit zehn Jahre lang, da habe ich ja so viel Schelte bekommen von den Aids-Organisationen durch meine Aids-Filme und meine öffentlichen Auftritte für Prävention. Man muss immer wieder bei jungen Leuten Aufklärung betreiben oder auch bei älteren, damit klar wird, positiv zu werden ist gesundheitlich nicht sehr angenehm.“ Und die Kunden? Der Schauspieler Peter Kern, der mit seinen 160 kg niemanden abzukriegen glaubt, erscheint wenig repräsentativ. Ein anderer Mann sagt nur im Halbdunkel aus, ein weiterer mit Maske, und beide verraten nicht viel.

Praunheim, der im Film unsichtbar bleibt, verrät wenigstens im Gespräch, warum er gelegentlich 30 Euro in einen Stricher investiert: „Das Schöne ist ja, im Gegensatz zur Schwulenszene, dass du nicht aufgrund deines Körpers beurteilt wirst, sondern als Mensch, wie du dich dem Stricher gegenüber benimmst.“ Und was die anderen Freier angeht, die im Tiergarten oder in der schwulen Sauna jeden Mann umsonst haben könnten und stattdessen bezahlen: „Viele wollen ja keine Schwulen, die wollen Heterosexuelle. Sie wollen diese Illusion, da ist so ein richtiger Kerl, und vielleicht ist da auch ein gewisser Masochismus, ein Selbsthass.“ Der Kunde, das unbekannte Wesen. Filmemacher, die auf der Suche nach einem Thema sind, sollten sich durch Praunheims Dokumentation angesprochen fühlen.

Mittwoch 17 Uhr (Cinestar 7); 16. 2., 22.30 Uhr (Cinestar 7); 18. 2., 15.30 Uhr (Colosseum 1)

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