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Kultur: Parzival ist unser Zeitgenosse

„Du sollst nicht töten, du sollst lebendig machen!“ lautet seine Devise. Dem großen Literaturhistoriker und Mittelalter-Fan Peter Wapnewski zum 80. Geburtstag

Von Norbert Miller

Wer das Glück hatte, eine Vorlesung des Literarhistorikers zu hören, der nach 1945 unter den Meistern in der altgermanistischen Zunft für Aufsehen sorgte, weiß um die Ausstrahlung, die von einem Hochschullehrer ausgehen kann, für den Forschung und Lehre, kritische Erkenntnis und gesellschaftlicher Auftrag zusammengehören. Peter Wapnewski sprach gelassen, überlegen und frei, zugleich jedoch mit so tiefer Beteiligung an der Dichtung des Hochmittelalters, dass die Zuhörer auch in den größten Auditorien der Universitäten in Heidelberg und Berlin mitgerissen wurden.

Keine methodologische Silbenstecherei, keine Synergie-Effekte aus Nichts und Abernichts: Der da von den Anfängen der Lyrik erzählte oder in den unlösbaren Konflikten der höfischen Kultur sich verstrickte, war von seinem Stoff durchdrungen und zeigte durch sein Beispiel Sinn und Zweck dessen, was die Schüler mühsam als Handwerk erlernten. Dabei brauchte Wapnewski keinen der großen Texte des Mittelalters vor sich: Walther von der Vogelweides Gedichte, die Gralsszenen aus Woframs „Parzival“ und die Episoden aus Gottfrieds „Tristan“ waren ihm in jedem Augenblick geläufig. Aus ihrer Deutung entwickelt sich seine Redekunst wie von selbst. Die Poesie und die Epoche, sie beide leben in ihm in einer dichten Präsenz. Und er selbst lebt in der aus dem Mittelalter erwachsenen Tradition des Abendlandes so selbstverständlich wie in den wechselnden Phasen der Gegenwart, an denen er stets in kritischem Engagement teilgenommen hat.

Das wissenschaftliche Werk des strengen Philologen ist außerordentlich umfangreich. Seit seiner Habilitation über den „Parzival“ hat er der Disziplin die Maßstäbe gesetzt. Er wies den Zusammenhang der Dichtung des Hochmittelalters mit der zeitgenössischen Theologie nach, behandelte vom „Rolandslied“ bis zum Artusroman und dem Minnegesang jeden Bereich des Hochmittelalters und erschloss sie mit seinem schöpferischen Scharfsinn neu. Eine rhythmische Unebenheit, eine störende Metapher können der Anlass sein, um mit Süßkind, dem Juden von Trimberg, oder dem Tannhäuser auf Zeitreise zu gehen. Panorama und close reading gehören für Wapnewski zusammen.

„Du sollst nicht töten, sondern lebendig machen“: Dies hat er als erstes Gebot für den Philologen formuliert. Schon in jungen Jahren bemühte er sich, die Dichtungen des Hochmittelalters ins Bewusstsein zurückzurufen. Vor der Zunft war dies ein Verstoß gegen das Reinheitsgebot der Altgermanistik. Er gab mittelhochdeutsche Texte zweisprachig und mit einem Kommentar heraus, der sich ans breite Publikum wandte. Heute ist dieser freiere Umgang selbstverständlich. Dazu trug mehr als jedes andere Werk Wapnewskis Übersetzung der Gedichte Walthers von der Vogelweide bei. Von ihr sind heute fast 200 000 Exemplare verkauft. Die andere Seite des selbstgestellten Auftrags, das Mittelalter sichtbar zu machen, betraf dessen Rezeption im 19. Jahrhundert. Schon in seiner Dissertation hatte er sich – auf damals beinahe anstößige Weise – mit dem Fortwirken der Versdichtungen beschäftigt. Vergleichsweise spät erst fand Peter Wapnewski zu Richard Wagner, dessen Wirken er zunächst skeptisch gegenüberstand. Die zweite Phase des Bayreuther Neubeginns begleitete er dann mit eindringlichen, kritischen Beiträgen: Wie kaum ein anderer machte sich Wapnewski um die Säkularisierung von Wagners Musikdramatik verdient. Die Festspiele sind ohne ihn beinahe so wenig zu denken wie ohne Wieland und Wolfgang Wagner.

Schon 1970 wurde der Schriftsteller in den Pen-Club aufgenommen, dann in die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung und in die Berliner Akademie der Künste. Die Auszeichnung galt nicht einfach seiner essayistischen Leistung, sondern dem Selbstverständnis des Autors Wapnewski, in engem Zusammenhang mit Literatur und Musik der Gegenwart zu stehen. Als die hochschulpolitischen Auseinandersetzungen viele liberale Professoren von den Zielen der Studentenbewegung trennten, setzte er sich öffentlich für die in Deutschland so oft abgewehrte Bindung der Künste an Politik und Aufklärung ein. In eigenen Sendereihen hat Wapnewski das literarische und musikalische Leben in der Bundesrepublik und in der DDR kommentiert, hat in großen Gesprächen mit Partnern aus der Avantgarde nach neuen Positionen gesucht. Da er – aus einer heute kaum noch nachvollziehbaren Bildungsfülle heraus – der zeitgenössischen Musik die gleiche Aufmerksamkeit wie der Dichtung widmete, der Kunst der Neuen Wiener Schule, den Opern Aribert Reimanns, den Werken Wolfgang Rihms, der pathetischen Zeitkritik Luigi Nonos, hat er auch in die Entwicklung der Zukunftsmusik energisch eingegriffen.

Für jeden Überschwang würde ein solches Lebenswerk Anlass bieten. Und doch ist mit dem Gesagten nur der eine Bereich in Erinnerung gerufen. Früh setzte die andere Laufbahn ein, Wapnewskis Engagement in der Wissenschafts- und Außenkulturpolitik. Er war viele Jahre im Präsidium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und Mitglied im Wissenschaftsrat. Danach machte er sich leidenschaftlich für den Ausbau der Goethe-Institute stark und wirkte bis Anfang dieses Jahres als erster Vizepräsident darauf hin, dass der Dialog zwischen den Kulturen in schwierigen Umbruchsituationen Kontinuität sicherte. Da sich die wechselnden Regierungen in der schäbigen Gleichgültigkeit gegenüber Sprache und Kultur einig sind, konnten auch Hilmar Hoffmann und er die Schließung von Instituten nicht verhindern. Dem Bürgermeister von Palermo gegenüberzutreten, der das Fortleben des dortigen Instituts garantierte, als die reiche Bundesrepublik das für überflüssig hielt – das hat Wapnewski schwer getroffen. An seinem Engagement hat sich dennoch nichts geändert.

1980 wurde er als Gründungsrektor an das von ihm mitkonzipierte Wissenschaftskolleg zu Berlin und zugleich als Professor an die Technische Universität berufen. In seinem Rektorat führte Wapnewski die neue Institution zu internationalem Ruhm: In den Anfangsjahren gelang es ihm, einige der größten Zeitzeugen unter den Philosophen, Dichtern und Künstlern nach Berlin zu holen. Darunter viele, die nach Jahrzehnten der Emigration erst im Wissenschaftskolleg zum Dialog mit Deutschland zurückfanden.

Peter Wapnewski wird heute 80 Jahre alt. Er hat von seiner Spannkraft nichts verloren. Davon kann sich jeder überzeugen, der eine der 26 zweistündigen Rundfunksendungen zu Wagners Musikdramatik einschaltet. Das buchlange Manuskript entstand in der ersten Hälfte dieses Jahres. Und das neben der gewohnten Vielzahl von Essays, Vorträgen, Reden! Wapnewski hat jede der schweren Gesundheitsbelastungen der vergangenen Jahre mit strenger Disziplin überwunden. Wie sehr Zeitskepsis und Selbstzweifel ihm zusetzen mögen, der Intensität seines Nachdenkens, der Entdeckerlust des Lesers, der lebendigen Begeisterung und dem Glanz seiner Rhetorik hat das nichts anhaben können. Ob er zu Freunden oder vor großem Publikum in der Philharmonie spricht – die leichtgefiederten Pfeile seiner Causerien treffen so sicher wie die Wahrsätze über Tristan, Isolde und Marke, über Treue und Verrat, Macht und Ohnmacht der Musik als Sprache. Für den Rundfunk (auch auf Hörkassetten gebannt) hat der Literarhistoriker die für ihn wichtigsten Werke des Hochmittelalters gelesen und kommentiert: das „Nibelungenlied“, Wolframs „Parzival“, Gottfrieds „Tristan“ und die Lieder Walthers von der Vogelweide. Es sind Gesprächskonzerte, bei denen der Tonfall, die hervorgehobene metrische Pause, das Verharren auf einem fremd gewordenen Begriff und der Exkurs zu einer vollkommenen Einheit werden: zur begeisternden, nicht missionarischen Botschaft, die Herrlichkeit vergangener Dichtung in den Alltag mit aufzunehmen.

Nun hoffen wir auf die ersten Kapitel der Autobiographie, auf eine Zeitdarstellung durch ein Leben, das alles andere als ein bloßes Leben in der Gelehrsamkeit ist. Zur jetzigen Zäsur in dieser Biografie sei Peter Wapnewski Dank für die Vergangenheit gesagt, Glück und Kraft für die Zukunft gewünscht.

Der Autor lehrt Literaturwissenschaft an der TU Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Der Wanderer. Goethe in Italien“ (Hanser).

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