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Kultur: Passagiere, Passanten

Das Berliner Kupferstichkabinett geht mit 40 Künstlern auf Städtereise

Im Kopf ist alles möglich: Man kneife die Augen zusammen und starre eine Weile auf das Muster eines Perserteppichs. Schon beginnen die Strukturen zu flirren und zu tanzen, einzelne Linien und Elemente heben sich ab. Mit viel gutem Willen könnte man sich nun fühlen wie beim Landeanflug auf eine Stadt. Die Berliner Künstlerin Pauline Kraneis macht das mit Vorliebe und zeichnet dann das Gesehene riesengroß, als wäre es der Lageplan einer Megacity wie Los Angeles aus der Vogelperspektive.

Vorstellbar ist alles, machbar eigentlich ebenso, zumindest auf Papier. Das Berliner Kupferstichkabinett ist mit Pauline Kraneis und 39 weiteren Künstlern auf Städtereise gegangen und zeigt nun deren Entdeckungen auf Papier. „Wittgenstein in New York“ hat Kurator Andreas Schalhorn die Schau überschrieben, was zunächst verwirrt. Doch der Titel ist einfach einer Grafik von Eduardo Paolozzi entlehnt, die den Wiener Philosophen bei seiner Ankunft 1949 in Amerika zeigt und nun im Entree zu sehen ist. Denn ähnlich wie Wittgenstein Welt und Sprache auseinander nahm, analysieren auch die Künstler ihre Lebenswirklichkeit und zerlegen sie in Stücke. Außerdem versuchte sich der Sprachphilosoph selbst als Architekt. Schon steht die Dreieinheit StadtKunst-Wittgenstein, überwölbt vom passenden Zitat: „Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an einem selbst. An der eigenen Auffassung. Davon, wie man die Dinge sieht.“

Seit den sechziger Jahren treibt die bildenden Künstler das Thema Urbanismus um. Dort wo Städteplaner und Architekten vor den Verhältnissen kapitulieren, beginnt für sie erst die eigentliche Herausforderung – nicht um zu bauen, sondern um zu denken. Dafür stehen auch die „Mental Maps“ des Berliner Malers Franz Ackermann, der auf dem Weg zur Bombay-Biennale noch seinen Beitrag im Kupferstichkabinett abgeliefert hat. In seiner Person verbindet er gegenwärtig Berlin und die indische Millionenstadt, in seinen Zeichnungen fügen sie sich bleibend zu einer heterogenen Farbstruktur. Auch Andreas Siekmann, ebenfalls mit Atelier in Berlin, versucht, das Unvorstellbare zumindest vorzuschlagen. So entwarf er für den Hamburger Szenetreff „Golden Pudel Club“ ein Denkmal: die Verdoppelung des kleinen Hauses in der Hafenstraße kopfüber, aufgehängt zwischen zwei großen Kränen. Der verrückte Vorschlag gefiel dem amerikanischen Künstler Jeff Koons wiederum so gut, dass er die Idee mit den beiden Riesenkränen übernahm und den Hamburgern als Skulptur für den öffentlichen Raum empfahl. Glücklicherweise blieb der Reeperbahn ein solches Monstrum erspart; seinen Reiz, seinen Charme hatte der Entwurf eben nur auf dem Papier.

Auch Architekturkritik lässt sich üben mit den Mitteln der Kunst wie in den Aquarellen von Christiane Delbrügge und Ralf de Moll. Zufälligen Passanten in der Stadt legen sie die Zitate großer Architekten in den Mund. Wenn ausgerechnet vor dem Hintergrund des Kulturforums nun zu lesen ist „Moderne Metropolen lassen sich nicht durch Pläne und Programme verstehen, geschweige denn ordnen,“ so hat das zwar seinen Witz, verbraucht sich jedoch schnell.

Die Ausstellung erscheint dort am stärksten, wo Künstler sich von der urbanen Struktur, dem Geflecht der Stadt inspirieren ließen: etwa bei Sarah Morris abstrakter Komposition, die sie aus dem Fenstern des Carillon-Hotels in Miami gewann, oder die an dekonstruktivistische Architekturzeichnungen erinnernden Sphärenbilder Julie Mehretus, in denen sich dynamische Linien und statische Elemente kreuz und quer im Raum begegnen. Oder man steigt mit Nanne Meyer wieder in den Jet und schaut von oben auf das Gewirr der Straßen. Die Hamburgerin zeichnet seit Jahren bei jedem Flug, was sie gerade noch erkennen kann. Und bleibt damit – ähnlich wie Kollegin Kraneis – ganz und gar nicht auf dem Teppich, sondern hebt noch einmal ab.

Kupferstichkabinett, Kulturforum, bis 8. Januar; Katalog 19,90 Euro.

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