zum Hauptinhalt

Kultur: "Passion 2000": Ein Zeitgeist-Thema?

O Crux. Vier Himmelsrichtungen, vier Kulturen, vier Sprachen für vier Passionen.

O Crux. Vier Himmelsrichtungen, vier Kulturen, vier Sprachen für vier Passionen. Das ist das Konzept. Was ist uns Bach in seinem 250. Todesjahr? Was ist uns der Leidensweg des Menschensohns? Zurück in das Jahrhundert der Schlächter oder in das vor uns liegende, von dem wir so wenig wissen, weil wir unsere Ohren vor dem zurückliegenden schon wieder verschlossen haben?

Den vier Weltentwürfen - oder vielmehr Weltverwürfen? - der Wagnerschen "Ring"-Tetralogie an der Stuttgarter Staatsoper antworten nun vier Neuvertonungen der vier kanonischen Evangelien. Die Kompositionsaufträge wurden an Wolfgang Rihm, Sofia Gubaidulina, Osvaldo Golijov und Tan Dun vergeben. Und Helmuth Rilling, Gründer und künstlerischer Leiter der Internationalen Bachakademie, hat mit der Gächinger Kantorei und dem Bach-Collegium Stuttgart das erste Auftragswerk nun glücklich uraufgeführt.

Wolfgang Rihms "DEUS PASSUS (Passions-Stücke nach Lucas)" beginnt wie im Dunkeln, mit tiefen Bläsern, Streichern und Harfe. Von Lippen zu Lippen geben die fünf Solisten den wohl folgenreichsten, den blutigen Satz, den man Jesu in den Mund gelegt hat: "Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird ... Das ist der Kelch, das neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird." Der Gesang der Altstimme beschwört die polyphonen Techniken Johann Sebastian Bachs herauf. Und dann folgt langsam und schwer der einzige Instrumentalsatz des Werks, ein Nachtstück mit seltsam in sich verschobenen Klangmassierungen. Mit diesen drei Nummern scheint der Verlauf der Komposition schon vorgegeben, Überraschendes steht nicht zu befürchten.

Wolfgang Rihm sucht ausgewählte Texte des Lukas-Evangeliums mit Abschnitten aus dem Graduale Romanum, der Karfreitagsliturgie und zwei Strophen des "Stabat Mater" zu konfrontieren. Der Grundzug der Passions-Stücke könnte, so Rihm, "Zurückhaltung" sein. Und wahrlich geht der Komponist nicht mehr von jener verhaltenen, fast in sich gekehrten Grundstimmung ab, der sich auch Helmuth Rillings Dirigat allzu gepflegt und höflich anheim gibt.

Liegt es also in der Verantwortung des Hörers, ob die Musik Einspruch gegen das Geschehen erhebt? Dem Urteil des Hörers vorzugreifen, ist Rihms Sache nicht. Dabei gibt er ihm einiges zu hören auf. Nicht so sehr dort, wo vom Zorn Gottes die Rede geht und prompt Orgel und Posaune einsetzen,nicht so sehr in der Ausmalung des weinenden Petrus oder in den Schicksalshämmern des Schlagwerks zur Kreuzigung.

Schon eher aber dort, wo die fünf Solisten (Juliane Banse, Iris Vermillion, Cornelia Kallisch, Christoph Prégardien, Andreas Schmidt) und der Chor nicht mehr mit einer Stimme singen, sondern sich in eine irritierende Vielheit aufspalten, wo Identitäten wechseln und zerfallen und Verantwortung dem zufällt, der nicht rechtzeitig beiseite treten kann. Das geflüsterte "Barabbas" des Chors klingt immer mehr wie "Kreuzige" und ein buffoneskes Fugato von Herodes und Pilatus auf einmal sehr nach Flucht. Judas wiederum darf zu versöhnlichen Akkorden auftreten, als wäre der Friede mit ihm längst gemacht - ein falscher Friede, ein richtiger Friede, wer weiß. Üppig wird die emphatische Bitte um Rettung vor dem bösen und um Befreiung von dem gottlosen Menschen ausgekostet. Wo Menschen sind, da sind orchestrale Wucherungen, ist verschmutzte Tonalität. Die reinen Intervalle sind immer die leeren, die reine Musik nur dort, wo es keine Menschen gibt. Noch der unerbittlich leeren Oktave bei Jesu Tod mischt sich das Intervall der kleinen Sekunde bei. Reibung über den Tod hinaus.

Doch Rihm kann auch sehr offiziös werden. Mit Worten von Jesaja aus dem Munde Martin Luthers darf sich sein Volk allgemein entschulden. So erleichtert kann Trauer orgeln, wenn nur der andere das Opfer war und man volles Orchester und Orgelwerk hinter sich weiß: "Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt." Spätestens hier, am Kulminationspunkt des Werks, in Satz 25 b, weisen sich Rihms Passions-Stücke als allzu nahe Verwandte von Krzysztof Pendereckis Lukas-Passion aus. Wie diese negiert Rihms Werk die beiden wichtigsten Passions-Musiken des 20. Jahrhunderts, nämlich Hanns Eislers Bühnenmusiken zu "Die Mutter" und "Die Maßnahme". Indem Rihm jene Hörer erhebt, die doch gar nicht zerschmettert darnieder lagen, ist ihm der Erfolg sicher, die Wirkung jedoch versagt.

Wolfgang Rihms knapp neunzigminütiger "DEUS PASSUS" ist final angelegt und wohl auch von seinem Finale her komponiert. Paul Celans Gedicht "Tenebrae" aus dem Zyklus "Sprachgitter" soll den Bogen spannen von der Einsetzungsformel der Eucharistie hin zum Unfassbaren, zu Auschwitz. Doch Celans Gedicht weist Musik ab. In der Rede der Vergasten: "Bete, Herr. Wir sind nah.", steht mit Bedacht der unaussprechliche Buchstabe "h" am Ende, der in der Musik den Tod symbolisiert. Es ist nicht an der Musik, Gott zu lobpreisen: Es ist an Gott, zu beten.

Dafür wählt Rihm Aufschrei und Zusammenbruch, nicht ohne Theatralik. Und mit einem Mal drängt sich vor die Frage nach der Tradition von Passionsmusiken die alles entscheidende, die kein andachtsvoller Ton versüßen kann: ob die passende Musik auf ein Gedicht nach Auschwitz auch die wahre sei. Denn sie werden es wieder tun. Denn wir werden es wieder tun. Was waren wir ergriffen. Was haben wir applaudiert.

Jens Knorr

Zur Startseite