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Der spanische Schriftsteller Fernando Aramburu

© Ivan Gimenez/Rowohlt Verlag

"Patria" von Fernando Aramburu: Im Zeichen von Axt und Schlange

Ständiger Brennpunkt: Der spanische Autor Fernando Aramburu erzählt in seinem Roman „Patria“ von den Auswirkungen des ETA-Terrors aus zwei Familien.

Es ist erst ein paar Monate her, da schaute Europa gebannt nach Spanien, nach Barcelona, und hoffte, dass der Streit um die Unabhängigkeitsbestrebungen der Katalanen nicht eskalieren und in blutiger Gewalt enden möge. Ausgestanden ist der Katalonien-Konflikt nicht, gerade erst haben sich die beiden großen Unabhängigkeitsparteien in Katalonien auf die Bildung einer Regierungskoalition geeinigt.

Trotzdem läuft das Ganze relativ friedlich, und fast vergessen scheint in diesem Zusammenhang zu sein, dass sich einst das Baskenland ebenfalls von Spanien abspalten wollte. Die baskische Untergrundorganisation ETA versuchte ab den sechziger Jahren, dieses Vorhaben mit Terroranschlägen durchzusetzen, was fast neunhundert Menschen das Leben kostete. Im Oktober 2011 verkündete sie das Ende des bewaffneten Kampfes per Video. Drei Kämpfer waren darin zu sehen, mit Baskenmützen und weißen Gesichtsmasken, pure Ku-Klux-Clan-Ästhetik, an einem Tisch mit weißer Decke, und dahinter ein Poster mit der Schlange, die sich um eine Axt windet, darauf der ETA-Slogan „bietan jarrai“, übersetzt „den zwei Wegen folgen“: den der Axt, stellvertretend für Gewalt, und den der Schlange, die für politische Intelligenz steht.

Diese Videobotschaft zieht sich auch durch die ersten Kapitel von Fernando Aramburus Roman „Patria“. Bittori, eine der beiden weiblichen Hauptfiguren des Romans, Mutter von zwei Kindern und Ehefrau eines von der ETA ermordeten Unternehmers, fragt sich: „Ob die Mutter dessen, der spricht, seine Stimme erkennt?“. Und im „Haus der Anderen“ empört sich Miren, in Gegenwart ihrer von einem Schlaganfall körperlich schwer beeinträchtigten Tochter Arantxa: „Sie stellen den Kampf ein und kriegen dafür was? Haben sie die Befreiung von Euskal Herria vergessen? Und die Gefangenen sollen weiter im Gefängnis schmachten. Feiglinge. Was man angefangen hat, muss man auch zu Ende bringen.“#Die Familien von Bittori und Miren sind in diesem Roman eng miteinander verbunden, erst sehr freundschaftlich, innerhalb der dörflichen Gemeinde, dann dadurch, dass Mirens älterer Sohn Joxe Mari sich der Terrorgruppe anschließt und Txato, eben jener Unternehmer, Bittoris Mann, erst erpresst und schließlich auf offener Straße erschossen wird.

Auch Aramburus Erzählband „Los peces de Armagura“ dreht sich um die Opfer der Terroristen

Wie sich die Beziehung der Familien zur hohen Zeit des ETA-Terrors insbesondere in den achtziger Jahren entwickelt, sie die Vergangenheit nach der Verkündung des Ende des bewaffneten Kampfes nolens volens einholt, sie versuchen, aus den Täter-Opfer-Rollen herauszukommen und in einen Schuld- und Vergebungszusammenhang geraten, all das schildert Fernando Aramburu mit langem, epischen Atem, dessen Frequenz jedoch durch gleich 125 kurze Kapitel eine lesefreundliche Schnelligkeit bekommt.

Im Werk des 1959 in einem Arbeiterviertel von San Sebastian geborenen und seit 1985 in Deutschland lebenden Fernando Aramburu spielt der Einfluss der ETA auf das Leben im Baskenland immer wieder Rolle. In seinem 1996 veröffentlichten, später auch ins Deutsche übersetzten autobiografischen Roman „Limonenfeuer“ geht es um eine Gruppe junger Schriftsteller, die versucht, „die Methoden der ETA auf den Kulturbereich“ zu übertragen; der Erzählband „Los peces de Armagura“ von 2006 dreht sich um die Opfer der Terroristen, und auch in dem Roman „Anos Lentos“ aus dem Jahr 2012 gibt es eine Figur mit Kontakten zu der Terrorgruppe.

„Patria“ scheint zunächst abermals näher auf der Opferseite angesiedelt zu sein. Bittori, die nach der Ermordung Txatos das Dorf gen San Sebastian verließ, kommt nun nach dem ETA-Ende täglich zurück in ihr Haus, wo sie auf dem Balkon rote Geranien als deutliches Zeichen für ihre Rückkehr aufstellt. Sie konfrontiert die seinerzeit feindlichen, ignoranten oder schamerfüllten Dorfbewohner mit ihrer Präsenz. Auch ihre Kinder Xabier, ein inzwischen 48-jähriger Arzt, und seine etwas jüngere Schwester Nerea sind nicht wirklich gut in ihr Erwachsenenleben gekommen. „Sie, ihre Mutter, ihr Bruder, sie alle drei waren zu Satelliten eines ermordeten Mannes geworden“, sinniert Nerea einmal. „Ob sie es wollten oder nicht, kreisten ihre Leben jahrelang um jenes Verbrechen, jenen unaufhörlichen Brennpunkt von. Von Kummer und Schmerz, verdammt!, und das muss aufhören, aber ich weiß nicht wie.“

Doch Kummer und Schmerz muss auch die andere Familie ertragen, und so widmet sich Aramburu mit gleicher Intensität der vermeintlichen Täterseite: der nach dem Verschwinden ihres Sohnes in den Untergrund loyal zu den Terroristen stehenden Miren, ihrem schwachen, einfach nur menschenfreundlichen Mann Joaxin, sowie den drei Kindern, die auf verschiedenen Seiten der Terrorfront stehen.

Es gibt letztendlich nur Verlierer in diesem Roman

Da sind hier Arantxa und Gorka, sehr zweifelnd, unentschlossen, und dort Joxe Mari, der sich im Gefängnis schließlich fragt, ob es das wert war: „Ich war nicht klug genug, man hat mich manipuliert. Bereut er denn? Er hat Tage, da ist seine Moral am Boden. Dann schmerzt es ihn, bestimmte Dinge getan zu haben.“ Auch das oft brutale, nicht immer korrekte, zweifelhafte Verhalten des spanischen Staates, insbesondere später gegenüber den Terroristen und deren Angehörigen, inklusive bestimmter Folterpraktiken, findet Eingang in „Patria“. Es gibt letztendlich nur Verlierer in diesem Roman, und die Erzählbewegung läuft in Richtung Versöhnung, gerade weil alle Beteiligten unter der Vergangenheit zu leiden haben.

Aramburus Roman besticht formal erst einmal nicht durch seine Sprachmacht, sondern mehr durch seine Komposition. Die vielen Kapitel wechseln zwischen der erzählten Gegenwart der Figuren und ihren Erinnerungen an die Vergangenheit, dabei stets andere Perspektiven einnehmend, zum Beispiel Bittori am Grab ihres Mannes, Xabier in seinem Arztzimmer mit einer Cognacflasche vor sich, eine Spinne betrachtend, Arantxa vorm Spiegel oder Joxe Mari in seiner Zelle. Überdies arbeitet Aramburu mit gezielten Auslassungen, mit durch Schrägstriche abgegrenzten Wort- und Sinnverdoppelungen, mit einer gewissen, von Willi Zurbrüggen schön rhythmisch ins Deutsche gebrachten umgangssprachlichen Lässigkeit, mit Brüchen, die sich dem Gedankenstrom der Figuren verdanken, und selbst vor dem überraschenden Wechsel seiner Erzähler innerhalb eines Kapitels kennt Fernando Aramburu keine Scheu.

Natürlich trägt „Patria“ in seiner Machart, der Fokussierung auf die Geschichte von zwei Familien vor dem Hintergrund eines zugespitzten politisch-gesellschaftlichen Geschehens, Züge eines Schmökers, eines nahezu kitschfreien jedoch. Nach dem Elena-Ferrante-Erfolg, dem Interesse für die Vernon-Subutex-Romane von Virginie Despentes dürfte nun hierzulande die Zeit auch reif sein für ein spezielles Kapitel der spanischen Nachkriegsgeschichte; eines, das lange nicht zu Ende verarbeitet ist, wie der Erfolg von „Patria“ in Spanien mit über 350 000 verkauften Exemplaren beweist. Und schließlich sind das Baskenland und Katalonien keine anderthalb Flugstunden entfernt.

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