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Topfit. Paul Simon in Berlin.

© dpa

Paul Simon live: Frag die Engel

New Yorker Coolness und Südstaaten-Lässigkeit: Paul Simon in der Zitadelle Spandau

Von Jörg Wunder

Grenzen sind dazu da, um überwunden zu werden. Für die Musik von Paul Simon gilt das spätestens seit „Graceland“, jener Platte aus dem Jahr 1986, für die er sich gegen alle Kritik über den Kulturboykott des Apartheid-Regimes hinwegsetzte und mit südafrikanischen Musikern zusammenarbeitete. Das Resultat war nicht nur eine bis in die Gegenwart wirkende Verschmelzung afrikanischer und amerikanischer Pop-Traditionen, sondern auch der Beginn einer wunderbaren Partnerschaft. Der Bassist Bakithi Kumalo, geboren in Soweto, ist seit einem Vierteljahrhundert immer wieder ein zuverlässiger Begleiter, wenn Paul Simon zu seinen seltenen Konzerttourneen aufbricht.

Auch in der abendlich besonnten Zitadelle Spandau stehen beide im Zentrum des Geschehens: vorne Simon, bleich wie ein Geist, die Augen hinter einer Sonnenbrille, aber topfit und jeder seiner 155 Zentimeter stolze New Yorker Coolness. Schräg hinter ihm der keinen Millimeter größere Kumalo, der mit flinken Knubbelfingern über den bundlosen E-Bass wieselt. Um beide gruppieren sich sieben weitere Musiker, die eine unüberschaubare Vielfalt von Instrumenten bedienen.

Denn dies ist, das stellt schon der von den 2 800 Zuschauern bejubelte Opener „The Boy in the Bubble“ mit polyrhythmischer Komplexität klar, kein Altherrenabend. Paul Simon, der im Oktober 70 wird, ist kein Rockrentner, der gemütlich sein musikalisches Vermächtnis verwaltet, sondern immer noch ein Suchender. Das jüngste Album „So beautiful or so what“ mag seinem Lebenswerk nur Nuancen hinzufügen, aber auf der Bühne fallen die neuen Stücke gegenüber den Klassikern nicht ab: Das mit hitzeflirrender Südstaaten-Lässigkeit getränkte „Dazzling Blue“, der suggestiv groovende Titelsong oder die hauchzarte, fast im Lärm der von Tegel startenden Flugzeuge untergehende Ballade „Questions for the Angels“ genügen höchsten Erwartungen.

Aber die spannende Frage ist natürlich: Was macht Simon aus seinen Evergreens? Und da geht einiges. „50 Ways to leave your Lover“ wird mit kräftigen Bläsern und fiebrigem Georgel aufgemotzt. „That was your Mother“ bezeugt mit Cajun- Stomp und schnarrendem Waschbrett- Solo Simons Liebe für die Musik des Mississippi-Deltas. „Hearts & Bones“ swingt unschuldig, bis das Tenorsaxofon dreckig dazwischenhupt und den Song in eine feine Interpretation von Elvis’ „Mystery Train“ verschiebt, die von einem tollen Fingerpicking-Solo des Gitarristen Mark Stewart geadelt wird.

Aber was heißt schon Gitarrist: Stewart, ein blonder Riese mit hüftlangem Pferdeschwanz, bearbeitet auch allerlei Blasinstrumente vom mächtigen Bariton- Saxofon bis zur winzigen Schalmei. Sein Antipode ist der Kameruner Vincent Nguini an der zweiten E-Gitarre, der Stewarts expressives Spiel mit synkopierten Afropop-Licks kontert, während der von zwei Schlagzeugern und einer stetig wechselnden Auswahl an Begleitinstrumenten angefachte Hexenkessel brodelt.

Paul Simon war nie ein übermäßig charismatischer Performer. Große Gesten sind ihm fremd, die bescheidene Pantomime, mit der er den Text von „Diamonds on the Soles of her Shoes“ illustriert, ist schon das Maximum an Exaltiertheit. Faxen hat er aber auch nicht nötig. Sein pointiertes Gitarrenspiel und vor allem sein unverkennbarer, verblüffend altersloser Gesang sind selbst dann über alle Zweifel erhaben, wenn sich die Band mal zurückhält. So ist seine Solo-Interpretation von „The Sound of Silence“, des allerersten Simon-&-Garfunkel-Hits, ebenso berührend wie die von George Harrisons „Here comes the Sun“, das – natürlich – in einen gen Himmel gerichteten Gruß an den von allen Kollegen geschätzten Ex-Beatle enden muss.

Zu etwas Besonderem wird dieses Konzert, weil Paul Simon und seine Band glaubhaft den Eindruck erwecken, als würden sie von ihrer enormen Spielfreude, von dem fantastisch harmonierenden Mit- und Durcheinander selbst immer wieder aufs Neue überrascht. Zwei Stunden lang pulsiert eine organische Musikmaschine, deren Präzision und Wucht den Vergleich mit großen Ensembles der US-Rockhistorie, beispielsweise Bruce Springsteens E Street Band, nicht zu scheuen braucht. Sie fügt aber noch eine Kontinente und Ozeane überwindende Freiheit der Form hinzu. Jörg Wunder

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