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Kultur: Perpetuum nobile

Gershwin trifft Ravel – und Ravel geht in den Zirkus: Berliner Silvesterkonzerte mit Simon Rattle, Christian Thielemann und Kent Nagano

Es gibt Karikaturen, die sind mittlerweile fast berühmter als die Dirigenten, die sie bei der Verrichtung ihrer Kunst zeigen: den Feuer spuckenden Mahler, den sparsamen Richard Strauss, den säbelrasselnden Toscanini. Um Haaresbreite wäre man nun auch beim Silvesterkonzert des Orchesters der Deutschen Oper versucht gewesen, zur Radiernadel zu greifen und das Thielemanneske für alle Zeiten festzuhalten.

Wie der Berliner Generalmusikdirektor immer wieder in bedrohliche Rückenlagen gerät, wechselweise mit dem rechten oder linken Bein ins Orchester tritt, wie er sich – als holte Boris Becker zum Aufschlag-Ass aus – mit angewinkelten Ellbögen und wiegendem Oberkörper in Rage pumpt, oder wie er Angela Georghiu, der angereisten Primadonna, schamlos staunend und an allen Koloratur-Kaskaden einer Nedda oder Carmen vorbei mehrfach bis in den tiefsten Kehlengrund hinein starrte. Musikalisch nämlich plätscherte der Abend zunächst denkbar uninspiriert vor sich hin. Christian Thielemann hatte keine Lust oder mürrische Laune oder beides, das Orchester gewöhnte sich nur zaghaft an die dünne Podiumsluft, und Georghius feiner, aber kleiner Sopran war allen neckischen Hüftschwüngen der Rumänin zum Trotz ebenfalls kaum dazu angetan, im Saal so etwas wie Aura, wie Stimmung zu verbreiten. Selbst ultimative Silvester-Schmankerln wie die „Fledermaus“-Ouvertüre oder der Donauwalzer arteten so in Arbeit aus und schürten heftige Zweifel an der Erotik des Dreivierteltaktes.

Thielemann freilich wäre nicht Thielemann und ein genialisch begabter Hund, wenn er das Steuer nicht noch in letzter Sekunde herumreißen könnte. Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegel“ vor der Pause hatte immerhin Hoffnungen geweckt, die „Rosenkavalier“-Suite als Rausschmeißer und letzte Zugabe erfüllte schließlich restlos alle Herzenswünsche: welch silbriges Flirren und Funkeln in den Geigen, welch grässlicher Schrecken an den Montagenähten des Stücks, wieviel schwere Süße im Schluss-Terzett! Und (schönstes, größtes Kompliment): was für ein Komponist! Mehr davon, bitte, ganz bald.

Sie sind sich tatsächlich persönlich begegnet: Maurice Ravel und George Gershwin. Kurz vor seinem Carnegie-Hall-Debüt im März 1928 wurde der Franzose 53 Jahre alt – und wünschte sich, dass der 23 Jahre jüngere Gershwin auf seiner Geburtstagsfeier Musik machen möge. Ob es bei dieser Party in New York zwischen den beiden Künstlern zu einem Gedankenaustausch über ästhetische Fragen kam, ist nicht bekannt. Ihre Kompositionsmethoden nämlich stehen sich diametral gegenüber. Während der Melodiker Gershwin Songs und Musicals mit lockerer Hand aufs Notenpapier warf, strebte der geduldige Tüftler Ravel stets nach Perfektion, in der Orchestrierung wie im formalen Aufbau. Für das Silvesterkonzert der Berliner Philharmonike r hat Simon Rattle nun ein postumes Rendezvous der beiden Klassiker des 20. Jahrhunderts organisiert – und als charmanter Gastgeber selbstverständlich ein Gesprächsthema gefunden, zu dem beide Essenzielles beizutragen haben: In der ausverkauften Philharmonie ging es um den Rhythmus als treibende Kraft der Musik. So, wie Rattle mit den sensationell motivierten Philharmonikern Ravels „La Valse“ und die „Daphnis et Chloé“-Suite angeht, wird das Publikum in einen Rausch der Klangfarben versetzt und vom Drive der Musik mitgerissen. Da erweitert sich das Hörerlebnis zur fantastischen Ballnacht.

Als Lady an Gershwins Seite hat Rattle die Jazz-Sängerin Dianne Reeves eingeladen. Ihre laszive Art ist einmalig – wie sie in „A foggy day“ mit dem philharmonischen Bratschisten Martin Stegner um die Wette improvisiert. Die Arrangements der Evergreens von Vince Mendoza sind dagegen nicht jedermanns Sache. Gershwins rhythmische Raffinessen nämlich gehen in Mendozas sinfonischem Bombast unter – ebenso wie (zumindest am 30. Dezember, beim ersten Konzert) immer wieder auch Dianne Reeves, deren Mikro nicht laut genug ausgepegelt ist. Frederik Hanssen

Ist schon irgendwie verhext. Immer wenn ich ins Konzert gehe (und das ist leider nicht sehr oft), bringen sie die „Carmen“-Suite von Bizet. In der Oper ist es nicht anders, auch da verfolgt mich die fatale Zigeunerfrau. Aber mit dem fröhlich-impertinenten Torero-Marsch spielten sich Kent Nagano und das Deutsche Symphonie Orchester ja nur warm für ihr Silvesterkonzert – um nach der Pause auf Carmen zurückzukommen. Die Carmen-Fantasie für Violine und Orchester, die der amerikanische (Film-)Komponist Franz Waxman 1947 aus Bizets Superhit herausholte, gehört allerdings nicht unbedingt zum Standardrepertoire. Dies hinreißende Zuckerbrot-und-Peitsche-Stück atmet den Speed der Neuen Welt, den Glamour Hollywoods – und der russische Geiger Vadim Repin hob mit seiner Stradivarius das Publikum im Tempodrom aus den Sitzen. Ein Bär von Mann, steht Repin scheinbar ungerührt im Sturm der Leidenschaft, ein Virtuose, dessen Spiel zum atemraubenden Thriller wird. Ein spanischer Abend ohne Gitarren – und ohne Spanier. Auch Edouard Lalos „Symphonie espagnole“ für Violine und Orchester (1874) ist wie Bizet französischer Herkunft – eine etwas längliche Paradenummer für einen Supergeiger wie Repin, der mit rasender Zärtlichkeit sein Instrument schier zerlegte. Strahlender Nagano, gut gelauntes Orchester. Es hätte der „Leichten Kavallerie“ von Franz von Suppé und Johann Strauß juniors Scherzartikel „Perpetuum mobile“ gar nicht bedurft, um Spiellust und freudige Neujahrserregung zu demonstrieren. Die Sachen sind populär, haben aber mit Spanien nur am Rande zu tun. Südländisches Temperament, Zigeunerromantik, die schönen Klischees – und Zirkus!

Der Clou des Nagano-Silvesterprogramms im Winterzirkus des Tempodrom waren die Artisten vom Wintergarten (leider nur zwei kurze Auftritte). Crystalle, eine zierliche, fragil wirkende Frau mit geheimen Energien tanzt am vertikalen Seil ein lyrisches Höhenspitzenballett von unglaublicher Grazilität und fast unsichtbarer Erotik. Schwerkraft, wo ist dein Stachel! Dort oben schwebt sie, gehalten von einem Arvo-Pärt-Kleinod für Klavier und Cello („Spiegel im Spiegel“).

Der „Bolero“ ist ja auch schon so etwas wie eine geniale Luftnummer. Nagano und seine Symphoniker paradierten mit Maurice Ravel federleicht dem Neuen Jahr entgegen – und die Zebras, fünf australische Akrobaten, wirbelten in die Höhe, gefährden die Lufthoheit des Dirigenten. Gute Vorsätze für 2004? Vielleicht mit dem Rauchen aufhören. Schließlich kam Carmen, die glutäugige, aus der Zigarettenfabrik. Rüdiger Schaper

Christine Lemke-Matwey

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