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© Alexander Sass

Perspektive Deutsches Kino: Plötzlich gibt es drei Väter, und alles fühlt sich richtig an

Schnacker, Gaukler, Blender. Oder: Träumer, Mutmacher, Künstler? Viele der 15 Beiträge in der deutschen Nachwuchssektion – zehn Spielfilme, fünf Dokus – denken über das Erzählen nach.

Wie entsteht Kino? Und wo entsteht es? Zunächst mal im Kopf – jedenfalls legt das „Glebs Film“ nahe, Christian Hornungs Beitrag zur Reihe Perspektive. Die knapp halbstündige Doku zeigt den Friseur Gleb beim Haareschneiden und Strähnchenpinseln in seinem Salon im Hamburg-Altona, während er zugleich, mit zartem russischen Einschlag, den Film erzählt, den er irgendwann mal gerne drehen würde. Es spielen mit: ein einsamer Mann, eine einsame Frau – und der Friseur Gottlieb („eine gewisse Schlankheit besitzt er noch“). Man sieht Gleb, wie er schneidet und erzählt, die Kundinnen nicken, sagen: „Oh, Gott!“, fragen: „Ist das wirklich passiert?“ Locken auf der Glatze – nach diesem Film erscheinen sie als schönste Frisur der Welt.

Schnacker, Gaukler, Blender. Oder: Träumer, Mutmacher, Künstler? Viele der 15 Beiträge in der deutschen Nachwuchssektion – zehn Spielfilme, fünf Dokus – denken über das Erzählen nach, experimentieren damit, hinterfragen es, feiern es. Sensationslüsterne Publikumserwartungen unterläuft Carolin Schmitz mit ihrer faszinierenden Dokumentation „Porträts deutscher Alkoholiker“. Alle Protagonisten, drei Frauen, drei Männer, bleiben anonym. Nur ihre Stimmen sind zu hören, Rückblicke auf ein Leben mit der Sucht. So viel Selbstbetrug! „Ich hab gesagt, wenn ich keine Probleme hab, bin ich kein Alkoholiker“, erzählt Herr Sch. „Und wenn ich kein Alkoholiker bin, kann ich so viel saufen, wie ich will.“ Zu sehen sind 79 Minuten lang ruhige, hypnotisch wirkende Bilder deutscher Wohnzimmer, Büros, Supermärkte, Straßen. Eine Spannung, die unaufgelöst bleibt. Das Land funktioniert, obwohl die Menschen trinken. Oder sie trinken, weil die Maschine so unerbittlich weiterläuft.

Hoch persönlich ist „Alle meine Väter“, in dem der 28-jährige Regisseur Jan Raiber seine Suche nach seinem biologischen Vater dokumentiert. Es geht nahe, wie Raiber im Verlauf dieses wunderbaren, liebevollen, unaufdringlichen Films an Unausgesprochenes rührt, wie er und seine Familie sich auch über schwierigste emotionale Themen verständigen können, wie respektvoll und aufrichtig miteinander geredet wird. „Schweig drüber!“, hatte Raibers Großmutter ihm geraten. Aber er entlockt seiner Mutter endlich doch die Wahrheit. Plötzlich gibt es drei Väter. Trotzdem fühlt sich alles richtig an.

Das Gegenteil von authentisch sind die Figuren in Sergej Moras etwas über-ironischer Betriebssatire „Hollywood Drama“. Hier diskutieren ein durch NaziUntergangsreißer zum Exportschlager gewordener Karriere-Regisseur (Carlo Ljubek) und sein grüblerischer Star (Clemens Schick) darüber, ob künstlerische Wahrhaftigkeit im – amerikanischen! – Filmbusiness zum hohlen Fake wird. Nö, findet der Regisseur, man muss dem Publikum geben, was es will. Okay, sagt der Schauspieler. Und spielt die nächste Szene – im Karottenkostüm.

Jaja, das Publikum. Die besten Chancen auf einen wirklich tollen, trauriglustigen Popcornabend dürfte es mit Dietrich Brüggemanns „Renn, wenn du kannst“ haben, dem Eröffnungsfilm. Intelligentes Unterhaltungskino mit pointierten Dialogen! Aus Deutschland! Ben (Robert Gwisdek) sitzt im Rollstuhl und tyrannisiert seine Umwelt mit zynischen Sprüchen. Er und sein Zivi Christian (Jacob Matschenz) lernen die Musikstudentin Annika (Anna Brüggemann) kennen. Ben erzählt ihr von sich. Annika: Das stimmt doch nicht! Ben: „In meinem Leben stimmt nichts.“ Worte als Wände. Es folgen eine unkitschig-romantische sowie eine ernsthafte, schmerzhafte Liebesgeschichte, außerdem zweieinhalb wichtige Selbsterkenntnisse und zum Schluss ein etwas zu riesiges, etwas zu computeranimiertes Freundschafts- und Traumbild. Stört aber nicht. Keine Angst vor großem Kino.

Anders mutig ist RP Kahls „Bedways“, der Abschluss der Perspektive. Regisseurin Nina (Miriam Mayet) dreht mit Marie und Hans (Lana Cooper, Matthias Faust) einen Film über Liebe, Nähe, Sex. Explizit. Wie spielt man das? Sex plus Kunst gleich was? „Porno? Quatsch.“ Der Film im Film ist ein Experiment am Ich, das Labor ein abgerocktes Apartment in der Friedrichstraße. Die Schauspieler tasten sich an ihre Figuren heran: „Du kannst den Slip noch anlassen.“ „Noch.“

Die Bilder, die „Bedways“ findet, sind aufregend, nie steril, nie plump, nie peinlich. Irgendwann sind es nur noch Nina und Hans, in Videokabinen, sie sehen sich gegenseitig auf dem Monitor. Nina schaut, fasst sich an, dirigiert Hans. Nach Minuten nimmt sie das Handy: „Komm rüber.“ Macht er. Das ist der Anfang, der eigentliche.

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