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Kultur: Peter Gay erinnert sich lakonisch, sorgfältig und mit viel Sprachwitz an seine Jugendjahre

Die Wunde heilt nicht. Die Aussonderung, die der 1923 geborene Peter Fröhlich im Berlin der dreißiger Jahre am eigenen Leib erfahren hat und die in der Flucht seiner Familie aus Deutschland beinahe zum allerletzten Zeitpunkt gipfelte, wirkt bis heute nach.

Die Wunde heilt nicht. Die Aussonderung, die der 1923 geborene Peter Fröhlich im Berlin der dreißiger Jahre am eigenen Leib erfahren hat und die in der Flucht seiner Familie aus Deutschland beinahe zum allerletzten Zeitpunkt gipfelte, wirkt bis heute nach. Doch der zu weltweitem Ansehen gelangte Historiker Peter Gay, wie sich der einstige Berliner seit seiner Einwanderung in die USA nennt, mochte es bei der alten Bitterkeit nicht belassen. Nach langem Zögern hat er seine Erinnerungen an die Jugend im Berlin der ersten Nazi-Jahre aufgeschrieben. Unter dem lakonischen Titel "My German Question" erschien der Rückblick im vergangenen Jahr in englischer Originalfassung, jetzt ist er unter dem Titel "Meine deutsche Frage. Jugend in Berlin 1933 - 1939" in deutscher Übersetzung nachzulesen. Er hat dem als brillanten Vermittler komplizierter kulturgeschichtlicher Zusammenhänge gerühmten, im besten Sinne angelsächsischen Autor sogleich den diesjährigen Geschwister-Scholl-Preis eingetragen, der Gay am 22. November in München verliehen wird.

Frieden mit der Vergangenheit

Zu Recht, möchte man nach der Lektüre hinzufügen - wenn es denn überhaupt eines Preises bedürfte, um diesen Autor zu rühmen. Peter Gay ist einer der besten Kenner des deutschen Kulturlebens zwischen den Kriegen, und was er als Heranwachsender in Berlin erlebt hat, weiß er als Historiker in einen denkbar umfassenden Horizont zu stellen. Darum geht es in seinem sicherlich persönlichsten Buch indessen nicht. Es ist dies ein vollkommen unprätentiöses Buch; keine Analyse, kein historisches Panorama, auch keine Autobiografie, sondern schlicht "Erinnerungen an sechs Jahre, die Zeit zwischen 1933 und 1939, die ich als Junge in Nazi-Berlin verbrachte". Freilich untertreibt der Autor da ein wenig, denn zugleich ist das Buch eine sorgfältige Reflexion der eigenen Empfindungen in den Jahrzehnten seither, der Schwierigkeit, mit diesem Deutschland zu Rande zu kommen, und dem schließlichen (Halb-)Frieden, den der Autor mit sich und seiner Vergangenheit schließen konnte.

Die missglückte Symbiose

Wenigen dürfte gegeben sein, die eigene Traumatisierung auf derartigem Niveau, auch mit derart viel Sprachwitz noch im scheinbar lakonischsten Nebensatz abzuhandeln. Die überaus erfolgreiche Bildungslaufbahn, die Gay dank glücklicher Umstände in der neuen Heimat USA beschreiten konnte, erlaubt zweifellos Gelassenheit. Jedoch keine Herablassung: sich selbst gegenüber nicht und nicht gegenüber denjenigen, die im Guten wie vor allem im Bösen seinen jungen Lebensweg in Berlin gekreuzt haben.

Über die persönliche Erinnerung hinaus hat Gay dann doch ein größeres Ziel. Der immer wieder erhobene und in den USA oft genug gehörte Vorwurf, die deutschen Juden seien blind für ihre sich beständig verschärfenden Lebensumstände im Hitlerreich gewesen, ja hätten "in einer unverantwortlichen Fantasie von der sogenannten deutsch-jüdischen Symbiose" gelebt, schmerzt ihn - als ungerecht und kenntnislos. Ihn wenn nicht zu entkräften, so doch ihm die Anschaulichkeit eines gelebten Lebens entgegenzusetzen, hat Peter Gay sein Buch geschrieben, als eine Erinnerung und gleichzeitig einen Bericht über die Entwicklung des eigenen Bewusstseins.

"Sie waren Deutsche"

Der schlichte Ausgangspunkt - den der heutige Sprachgebrauch von den "deutschen Juden" schon unmöglich macht - ist die Tatsache, dass die Fröhlichs sich durchaus nicht als Juden empfanden. Über seine Eltern schreibt Gay den ebenso kurzen wie erschütternden Satz, "Sie waren Deutsche". Und nochmals: "Wir wollten nicht durch NS-Verordnung Juden sein." Darin liegt die Tragik der Juden in Deutschland beschlossen, dass sie zu Fremden und Aussätzigen im eigenen Land erklärt wurden, schrittweise ausgesondert und doch bis zum Schluss nicht ohne die Hoffnung, dass der Nazispuk sich verflüchtige. "Meine Eltern und ich bildeten eine Insel der Ordnung und Vernünftigkeit", setzt Gay der Außenwelt entgegen. Der Familienalltag verlief anders als das Chaos ringsum: "In einer Diktatur zu leben hieß nicht, in einem Dauerzustand höchster Anspannung zu leben." Und um solche widernatürliche Normalität noch zu pointieren: "Inmitten der Nazi-Schikanen florierte das Geschäft meines Vaters." Der mit anrührender Warmherzigkeit geschilderte Vater war im Glasgeschäft tätig. Der Sohn besuchte das Goethe-Gymnasium - und fand dort einen Rest des untergehenden Deutschland. Von selbst erlittenen Schikanen an der Schule weiß er nicht zu berichten, vielmehr von einem einigermaßen verträglichen Miteinander, sogar mit Hitlerjungen.

Das andere Geschlecht

Doch die Kreise wurden enger. Ein letzter Höhepunkt waren die Olympischen Spiele, die Vater und Sohn als begeisterte Sportsfreunde besuchten. Danach beschleunigte sich die Verfolgungspolitik der Nazis. Peter Gay beschreibt den Prozess des Rückzugs auf sich selbst, vor allem auf Literatur und - auch dies - Briefmarkensammeln. Ernst und Verschlossensein nehmen zu. Die erwachende Neigung zum anderen Geschlecht konnte unter den Bedingungen äußerster Anpassung keine Möglicheit zur Entfaltung finden. Auch das beschreibt Gay ohne Larmoyanz - und daher um so eindrücklicher.

Die unter atemberaubenden Umständen geglückte "Auswanderung" der Familie Fröhlich gibt dem Erinnerungsbericht eine scheinbar versöhnliche Note. Aus dieser Perspektive erschließt sich, warum der Autor beständig seine jahrzehntelangen Reflexionen in den Gang der Erzählung einschiebt. Was er beschreibt, ist der erzwungene Verlust der einen Identität und der Aufbau einer zweiten; die gleichwohl, und im Laufe der Jahre um so stärker, versehrt bleibt von der Vergangenheit. "Ich habe etwas aus mir gemacht, und auch Glück habe ich wieder erlebt", resümiert der Autor: "Aber nach sechzig Jahren suchen mich noch Fragmente aus Nazi-Berlin heim und werden mich heimsuchen bis ans Ende meiner Tage."

Dennoch: Wenn es so etwas gibt wie Versöhnlichkeit im Unversöhnlichen, dann hat Peter Gay dafür mit seinem Erinnerungsbuch ein bewegendes Zeugnis abgelegt.Peter Gay: Meine deutsche Frage. Jugend in Berlin 1933 - 1939. C.H.Beck, München 1999. 230 Seiten. 24 DM.

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